Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam
Sarria vor mir liegt. Eine richtige kleine Stadt, mit einer richtigen Einfallstraße voller Autos, Menschen und Baustellen. Und einem großen Spruchband über der Straße, mit dem Pilger begrüßt werden. Nett.
Jetzt werde ich aufgeregt, doch die Post ist leicht zu finden und noch offen, und der Herr am Schalter versteht, was ich möchte. Mir fällt ein Stein vom Herzen.
Zu früh. Nach dreißig Minuten werde ich ungeduldig, irgendwie geht hier gar nichts. Warum habe ich mir auch den einzigen Mann ausgesucht, der anscheinend nicht Bescheid weiß? Er sucht Formulare, telefoniert, sucht Formulare, telefoniert, sucht Formulare, telefoniert... Gut, dass ihm irgendwann eine seiner Kolleginnen meine Angelegenheit aus der Hand nimmt — aber dann ruft sie mich zu sich: „Tut mir Leid, Señora, der überwiesene Betrag weicht von der erwarteten Summe ab. Das muss geklärt werden und wird noch ein Weilchen dauern.“
Boing. Wie ein platzender Luftballon explodiert die Spannung in meinem Bauch und wird zu Wut und ich stürze nach draußen, schnaubend vor Zorn — auf Max. Das hat bestimmt er verbaselt hat die Summe geändert und vergessen es mir zu sagen wie immer ständig vergisst er alles. Ich stampfe vor der Post auf und ab, rauche und schimpfe innerlich, bis ich den Teufel in meinem Kopf kichern höre und erschrocken stehen bleibe. Halt, was war das jetzt? Ich habe doch dieses Problem produziert, warum will ich Verantwortung dafür auf ihn abwälzen?
Beschämt schleiche ich wieder auf meinen Warteplatz und sitze demütig die nächste Stunde ab, bis der Fehler bei irgendeiner Stelle in Madrid geklärt ist, ich meinen dicken Packen Geld verstauen kann und erleichtert hinausschwebe. Jetzt bin ich in Sicherheit, leiste schnell allen Beschimpften Abbitte und gehe feiern. Mit Cola und Kuchen auf einer Bank am Fluss, zwischen allen alten Männern des Ortes, die sich hier zum Rauchen und Schwatzen zusammengerottet haben. Dann steig ich hinauf in die Altstadt und mit jedem Schritt wird meine Erleichterung größer, bis ich lächle und innerlich Juhuuuu schreie und mich an allem freuen kann. Über die Hausfassaden und Portale, und besonders über die segnende Christusgestalt über der Tür zur Kirche San Salvador die kindlich und archaisch wirkt. Da bin ich auch schon am Ende der Stadt und laufe auf einem gepflasterten Pfad durch einen herrlich schattigen, efeudurchwilderten Eichenwald, hinter dem sich ein weites gelb-violettes Blütenmeer ausbreitet.
Die prächtigste Natur liegt vor mir. Zuerst duftende Ginster- und Heidehügel, dann Wiesen und Wälder, dann dörfliche Welt. Zwischen hohen Birken stehen Wegkreuze an Feldern, auf denen metergroßer Stängelkohl und Mais wächst. Mittendrin erheben sich die originellen Hórreos, steinerne Maisspeicher auf Stelzen mit gemustert durchbrochenen Wänden. Schmale Pfade schlängeln sich zwischen verwitterten Mauern, bestehen aus Steinen und Platten, sind alte Corredoiras, die schon in Vorzeiten neben Bächen angelegt wurden, um trockene Wege zu schaffen. Verstreut liegen Gehöfte und Dörfer mit schiefergedeckten, kastenförmigen Gebäuden aus Granit, und in einem von ihnen raste ich zwischen Stroh, Hühnern und Katzen am Dorfbrunnen. Aus ihrem Stall glotzen mich Kühe an und machen mir Appetit auf Milch. Doch woher? Die vorüberschlurfende Alte mag ich nicht fragen, also bleibt’s bei Wasser. Ist auch nicht schlimm, ich fühle mich wohl und gelassen, selbst vor dem großen Hund habe ich keine Angst mehr, er darf gern bei mir sitzen. Und der uralte, gebeugte Mann in seinem schäbigen Jackett, der mit seinem Stock in einem Häuflein Mist stochert und mich aus den Augenwinkel mustert? Ich würde ihn am liebsten umarmen und ihm sagen, dass er zu beneiden ist, in diesem wunderschönen Land zu leben!
Zum wievielten Mal ziehe ich die zerfledderte Herbergsliste aus meiner Hosentasche und der Plastiktüte, um nachzuschauen, wie weit welche Herberge entfernt ist? Mir war irgendwann Morgade aufgefallen, weil es nur fünf Betten hat, bis dort sind es jetzt nur noch einige Kilometer. Mir ist nach Ruhe. Nur keine große, quirlige Herberge mit Gequatsche heute, vielleicht klappt es und ich finde dort ein Bett.
Mein Wunsch wird erfüllt. Hinter einer Wegbiegung steht ein ummauertes, solides Einzelgehöft mit einer Bar, an der ein Schild lehnt: CASA MORGADE CAMAS 5 Euro. Nun muss ich mich nur noch durch eine Schulklasse Fünfzehnjähriger drängeln, die unter viel Getöse auf ihrer Wanderung nach
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