Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam
hier, fühle mich danach im Einklang mit allem und beginne meinen Tagesmarsch.
Nichts lenkt mich ab, weil ich nichts sehen kann, ich bin ganz bei mir und meinen Gedanken, folge einfach den buckligen Steinen unter meinen Füßen hügelauf und hügelab. Zwischen schemenhaften Eichen und Pinien und dem gelegentlichen Duft von Eukalyptus, durch kleine Dörfer mit noch kleineren Kirchen und grauen Gehöften und fühle mich in dieser seltsam gedämpften Stimmung wohl, obschon mir das Gehen heute schwer fällt. Ich bin müde und mache häufiger Pausen als sonst, aber warum soll ich mir nicht Zeit lassen? Andererseits drängt es mich vorwärts, zieht es mich zum Ziel, das ich doch eigentlich noch nicht erreichen möchte, um möglichst lange in diesem wunderbar sorglosen Zustand zu bleiben. Es ist gut, mich schmerzfrei und stark zu fühlen und Dinge zu tun, die meine Ängste früher verhindert haben. Doch am besten gefällt mir, im Zentrum meiner Aufmerksamkeit zu sein und keine Erwartungen erfüllen zu müssen. Ich bin nicht mehr dieselbe, die in Saint-Jean auf den Camino gegangen ist, und empfinde es wie ein Wunder, jeden Tag Seiten an mir zu entdecken, die schon immer da waren, doch erst hier in der Ruhe in mein Bewusstsein treten. Warum war ich bisher so wenig ich selbst?
Ein Ruf reißt mich aus meinen Grübeleien.
Von einer Lichtung winkt mir ein dunkelhaariges Mädchen aus einer Gruppe Frauen, doch ich muss zweimal schauen, bis ich mich besinne und erstaunt Savannah erkenne, meine junge australische Ratgeberin — ohne ihren Freund. „Hi, wieso bist Du hier, ich glaubte euch weit vor mir, wo ist Brad?“ Savannah runzelt die Stirn. „Wir haben uns getrennt. Schon vor Wochen, und gehen jeder unseren Weg. Vor Santiago wollen wir uns wieder treffen.“ Oh, sie hat anscheinend die Ratschläge an mich selbst umgesetzt, doch ich frage nicht, bleibe nicht, um mich mit ihr zu unterhalten, obwohl ich sie gern habe. Mir ist heute Morgen nicht nach Gesellschaft. „Vielleicht treffen wir uns auch dort, buen camino“, rufe ich ihr zu und ziehe nachdenklich weiter. Wir müssen alle irgendwann einen Weg allein gehen, um uns auf uns selbst einzulassen und uns kennen zu lernen...
Seit Tagen habe ich schon nicht mehr auf die restlichen Blätter meines Reiseführers geschaut, weiß nicht, was mich erwartet, und bin fast überwältigt, als hinter einer Straßenbiegung die hohe Brücke über den fast leeren Stausee des Río Miño auftaucht, auf dessen anderer Seite sich die Häuser Portomaríns einen Hang hinaufziehen.
Wie eine unwirkliche Kulisse verbindet tief unten eine zweite alte Bogenbrücke dicht über der Wasseroberfläche Niemandsland miteinander, dort, wo früher die Stadt lag, bevor der Fluss gestaut wurde und man sie am Berg neu errichtet hat. Von hier sieht es aus, als wäre sie schon immer dort gewesen, und auch als ich auf der anderen Flussseite die Gassen hinaufsteige, deutet nichts daraufhin, dass die Häuser und Arkaden erst vierzig Jahre hier stehen, dass ein Teil der Stadt und die Ordenskirche damals abgetragen und hier wieder aufgebaut wurden. Neugierig steige ich die Stufen zum Stadttor hinauf.
Heute ist Markttag, die Straßen sind rappelvoll. Bauern haben an den Straßenrändern Stände aufgebaut, schwatzende Horden wimmeln geschäftig durch die Gassen, und ich dränge mich in die bunte Lebendigkeit, mag zu gern sehen, was hier verkauft wird, und die Menschen beobachten, will die Gesichter der Einheimischen betrachten und ihre Stimmen hören.
Männer feilschen um Schafe und Ponys, haben runde Käselaibe in allen Farben und Größen zu Pyramiden gestapelt und laden mich ein, zu probieren. Andere haben unübersichtliche Haufen Eisen vor sich liegen, zwischen denen ich handgeschmiedete Sicheln, Hacken und Messer erkenne. Ein Bauer verkauft mir kopfschüttelnd einen Apfel: „No más?“ — warum nicht mehr?
Bäcker bieten duftende Brote an. Eine Frau zeigt auf das große, dampfende Fass vor sich und bedeutet mir, näher zu kommen, doch als ich hineinschaue, zucke ich angeekelt zurück: ein Gewirr dunkelroter Pulpos mit Armen voller blasser Saugnäpfe schwimmen darin umeinander. Das soll eine Spezialität der Region sein? Ohne mich, da esse ich lieber wieder ein Bocadillo und gehe danach zum Marktplatz hinauf, wo meine spanischen Schlafgenossen im Trubel mit vollen Mündern sitzen und mich mit ihrem Riesenbrotlaib und einer geräucherten Wurst einladend heranwinken. Zu spät, ich habe gegessen, winke nur
Weitere Kostenlose Bücher