Wie ich Rabbinerin wurde
Tora-Schreins verbeugen. Ich selbst kann mich kaum halten. Die einjährigen Vorbereitungen für die Tagung, die Angst und Aufregung, ob sie gelingen würde, die unzähligen organisatorischen Einzelheiten, die zu berücksichtigen sind – das alles ist schier zu anstrengend, um für die eigentliche Bedeutung des Geschehens noch ein emotionales Bewusstsein aufbringen zu können. Erst jetzt, da wir wieder auf der Frauenempore stehen, wird mir klar, was wir tun. Jedes Mal, wenn das
Kaddisch
gesagt wird, fange ich an zu weinen:
Hu ja’asseh schalom alejnu ve’al kol Jisrael …
– »Er macht Frieden mit uns und mit ganz Israel …« Die Frauen und Männer, die hier zusammengekommen sind: Das ist Israel. Wir alle zusammen, wir, die wir in Europa geboren sind, wir, die wir Kinder von Überlebenden der
Schoa
und auch des Antisemitismus im Ostblock sind – wir alle gehen jetzt diesen einen Schritt und schließen Frieden mit uns selbst, dafür, dass wir in Europa geblieben sind und das jüdische Leben wieder aufbauen.
Bei einem Morgengottesdienst hält Rabbinerin Katalin Kelemen aus Budapest eine kleine Rede. Sie erzählt von ihrem Großvater, der Häftling in Buchenwald gewesen ist, und von ihren kommunistischen Eltern. Sie selbst hat Naturwissenschaften studiert und hätte sich in ihrer Jugend kaum vorstellen können, jemals Rabbinerin zu werden. Sie hätte sich aber noch weniger vorstellen können, eines Tages in Berlin – dem Ort, von dem die
Schoa
ausgegangen ist – auf einer
Bima
zu stehen und zu einem Publikum zu sprechen, das aufzeigt, dass das jüdische Leben in Europa doch noch nicht zu Ende ist.
Der ersten
Bet-Debora -Tagung
würden bis 2003 noch zwei weitere in Berlin folgen. Jede von ihnen zieht eine gleich große Zahl von jüdischen Teilnehmerinnen aus europäischen Ländern an. Insbesondere bei der zweiten Tagung zum Thema »Die jüdische Familie – Mythos und Realität« im Jahre 2001 kommt es zu einer heftigen Kontroverse um den Begriff »zweiteGeneration«. Viele der Teilnehmerinnen begreifen sich als traumatisierte Kinder von »Opfern« und leben immer noch mit der Wut gegenüber »den Deutschen«. Lara und ich halten dagegen, dass wir die »erste Generation ›danach‹« seien, die wieder etwas Positives nach der Katastrophe aufbaut.
Im Vorfeld der ersten Tagung rufe ich Hermann Simon, den Direktor des
Centrum Judaicum
, an. Seit 1995 ist mir der Name Regina Jonas bekannt. Ich weiß, dass ihr Nachlass im Archiv des
Centrum Judaicum
liegt. Erst nachdem die jahrzehntelang in der DDR befindlichen und kaum zugänglichen Reste des »Gesamtarchivs der deutschen Juden« dem
Centrum Judaicum
in Berlin übereignet worden sind, können die sensationellen Dokumente entdeckt werden. Jonas’ Name ist zu diesem Zeitpunkt vollkommen vergessen. Als das
Hebrew Union College
in Cincinnati 1972 Sally Priesand ordiniert, feiern die Zeitungen sie als die erste Rabbinerin der Welt.
Die deutsch-amerikanische Theologin Katharina von Kellenbach hat seit 1995 bereits mehrere Artikel über Regina Jonas veröffentlicht. Auch Rachel Herweg hat verschiedene Artikel über sie geschrieben. Daniela Thau ist irgendwann von Hermann Simon beauftragt worden, Regina Jonas’ Nachlass herauszugeben, hat aber davon Abstand genommen. Jetzt, so heißt es, soll Pnina Navè Levinson, die Frau von Rabbiner Peter Levinson, daran arbeiten. Ich möchte von Hermann Simon wissen, ob demnächst mit einem Buch über die erste Rabbinerin der Welt zu rechnen sei und man die Autorin zur
Bet-Debora -Tagung
einladen könnte. Leider, so sagt er mir am Telefon, haben die verschiedenen Aufträge bisher zu keiner größeren Veröffentlichung geführt.
Es folgt eine Sekunde des Schweigens.
Dann fragt mich Hermann Simon: »Wollen Sie das Buch schreiben?«
Wieder folgt eine Sekunde des Schweigens.
Dann sage ich: »Ja.«
Wenn ich mein bisheriges Leben im Rückblick betrachte, ist nicht nur das Richtige im richtigen Augenblick eingetreten – ich habe auch immer die richtigen Menschen dazu kennengelernt. Es ist noch Wahlkampfzeit in der Jüdischen Gemeinde. Ich gehe eine Straße im Zentrum Berlins entlang, als ein – für mich erkennbarer – Jude mir entgegenkommt. Wir kennen uns nicht persönlich. Aber wir bleiben beide stehen und sehen uns fragend an.
Möglicherweise hat er mein Gesicht in einer der Wahlkampfbroschüren gesehen. Ich erkenne jedenfalls an seinem Habitus, dass er ein orthodoxer Jude ist, obwohl er keinen langen
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