Wie ich Rabbinerin wurde
Bart hat, keine
Pejes
und auch keinen schwarzen Hut trägt, sondern ganz normal aussieht. Wir sagen uns gegenseitig gerade einmal unsere Namen und dass wir beide Mitglied der Jüdischen Gemeinde sind, als er mich unvermittelt in einem Jiddisch-ähnlichen Deutsch fragt: »Möchtest du etwas lernen?«
Ein paar Tage später treffe ich mich mit Israel-Meir Miller, dem
Ba’al Kerija
der orthodoxen Synagoge Joachimstaler Straße. Wir wissen beide nicht, was er mir beibringen könnte. Aber er ist Tora-Vorleser, und ich bin das weibliche Pendant dazu in der Synagoge Oranienburger Straße. Wahrscheinlich angeregt vom jüdischen Feminismus, den ich öffentlich vertrete, bringt er das Buch
Esther
mit. Israel-Meir schlägt vor, mir den Gesangsmodus der
Megillat Esther
beizubringen. Er ist anders als der Modus der Tora-Abschnitte am Schabbat. Nach einigen Treffen beherrsche ich den neuen
Trop
, aber sowohl Israel-Meir als auch ich spüren, dass es nicht dieses Thema ist, das uns zusammengeführt hat.
Hermann Simon zeigt mir im Archiv des
Centrum Judaicum
die 14 Mappen mit dem Nachlass von Regina Jonas, darunter ihre Abschlussarbeit, die sie 1930 an der »Hochschule für die Wissenschaft des Judentums« eingereicht hat: »Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?« Es ist eine
halachische
Arbeit, also eine, die anhand der jüdischen Religionsgesetze die gestellte Frage positiv zu beantworten versucht. Jetzt, da ich erstmals das 95 Seiten umfassende Werk in den Händen halte,nehme ich das Gefühl einer Vorsehung in mir wahr und frage mich im gleichen Moment, ob ich überhaupt berechtigt bin, Regina Jonas’ Streitschrift herauszugeben?! Ich bin keine Wissenschaftlerin, keine Rabbinerin, keine Gelehrte – ich habe einen Großteil meines jüdischen Wissens nur autodidaktisch gelernt. Ich habe mich nicht darum gerissen, Regina Jonas’ Werk herauszugeben. Es hat weitaus kompetentere Vorgängerinnen als mich gegeben, die Jonas’ Nachlass bereits gesichtet und wissenschaftliche Artikel über sie geschrieben haben. Jetzt liegen diese Seiten in meinen Händen. Ich habe Regina Jonas nicht gesucht – aber in diesem Moment hat sie mich gefunden.
Auf der ersten Seite stechen zwei Stempel ins Auge. Oberhalb des Textes:
Rabbiner Regina Sara Jonas
(ab 1939 müssen jüdische Frauen den Zwangsnamen »Sara« angeben), daneben:
Berlin C2, An der Spandauer Brücke 15, Tel. 42 02 90.
Dazwischen steht der Titel der Arbeit. Das immer noch kräftige Ultraviolett leuchtet mit einer Signalkraft, als hätte Regina Jonas die beiden Stempel erst gestern auf das Papier gesetzt. Mein Auge überfliegt die ersten Seiten. Es sind mit Hilfe von Pauspapier erstellte Durchschläge. Zwischen dem mit Schreibmaschine geschriebenen deutschen Text stehen immer wieder Zitate in Hebräisch. Ich erkenne schnell, dass es sich um Passagen aus der Bibel und dem Talmud handelt. Für eine Edition dieses Werkes müsste ich sie zunächst ins Deutsche übertragen, wobei mir die Goldschmidt-Übersetzung des Talmud helfen würde. Trotz der sehr großen Herausforderung fühle ich mich dem Vorhaben gewachsen und freue mich darauf, anhand einer speziellen Frage, die mich selbst leidenschaftlich interessiert, mich in den kommenden Monaten intensiv mit Talmud-Zitaten zu beschäftigen.
Nach den ersten Seiten, die ich ediere, erreiche ich jedoch eine für mich zunächst unüberwindbare Grenze. Regina Jonas zitiert, wie ich erst nach einigen Seiten feststelle, nicht nur aus dem Talmud, sondern auch aus anderer rabbinischer Literatur: den Gesetzeskompendien
Mischne Tora, Tur, Schulchan Aruch
und den zugehörigen Kommentaren über die Jahrhunderte hinweg,außerdem aus Responsen und anderen Quellen. Von alledem gibt es keine deutschen Übersetzungen. Ich verirre mich in eine Welt, die mir noch vollkommen unzugänglich ist – und muss mir bald eingestehen, dass ich Regina Jonas’ Arbeit mit meinem jetzigen Wissensstand nicht edieren kann.
So rufe ich Israel-Meir Miller an: Ich wisse jetzt, was ich lernen wolle. Textstellen aus dem
Mischne Tora
, dem
Schulchan Aruch
und anderer
halachischer
Literatur. Das ist auch seine Welt. Zwar ist für einen orthodoxen Mann mit einem traditionellen Frauenbild die Frage, ob Frauen Rabbinerinnen sein können, gewiss kein vorrangiges Thema. Aber doch schöpft Israel-Meir aus den Quellen, die Regina Jonas zitiert, auch seinen Lebenssinn. So werde ich fortan zweimal in der Woche zusammen mit meinem neuen Lehrer in die jüdische Rechtsliteratur
Weitere Kostenlose Bücher