Wie Inseln im Strom
auf. “Lacy, nicht. Nicht weinen.”
“Ich weine nicht.” Verärgert schüttelte sie den Kopf und ignorierte die Feuchtigkeit an ihren Wangen, die sich in der Abendbrise seltsam kalt anfühlten. “Ich weine nicht.”
Er hob die Hand und wischte die Tränen mit den Fingerspitzen ab. Mit den Daumen strich er die Haut unter den Augen trocken. Doch kaum hatte er das getan, kam schon die nächste Träne.
“Was ist mit mir los?”, flüsterte sie mit erstickter Stimme. “Ich weine nicht. Niemals.”
“Ich weiß”, flüsterte er und strich zärtlich über ihre Wangen. “Aber jetzt darfst du es. Es ist gut, Lacy. Es ist gut.”
War es das wirklich? Sie bezweifelte es, aber sie liebte den Klang seiner Stimme. Selbst wenn das, was er sagte, nicht stimmte, so tröstete es sie doch, wie er es sagte. Fast unmerklich schmiegte sie sich mit der Wange immer fester an seine streichelnde Hand.
Behutsam legte er seine Lippen an ihre Stirn, ihre Schläfe, ihre geschlossenen Augen und schließlich den zitternden Mundwinkel.
Und dann, als wäre es unausweichlich, küsste er sie. Sie spürte seine Wärme, seine Stärke und dass er eine Antwort von ihr erhoffte, die nur ihre Lippen ihm geben konnten.
Sie schmeckte salzige Tränen und die Meeresluft. Und Adam. Sie schmeckte Adam.
“Adam …” Sie wisperte seinen Namen und berührte sein Haar. Es war so weich, so seidig. Sie tastete nach dem Puls, der an seinem Kinn schlug. Und dann fand sie seine Schultern. Sie umklammerte sie, als eine plötzliche Schwäche ihr die Kraft zum Stehen raubte.
“Lacy.” Er hauchte es an ihrem Mund, und sie fühlte seinen Atem an ihren Lippen, bis sie nicht mehr anders konnte und den Kuss erwiderte.
Ein ungestümes Verlangen entflammte zwischen ihnen, und wie von selbst vertiefte sich der Kuss.
Ja, genau daran erinnerte Lacy sich. Es war wie früher – und nur der Anfang. Es gab mehr, viel mehr …
Aber danach gab es nichts als Schmerz.
Und kein gewöhnlicher Schmerz – nicht nur die Peinlichkeit, die Enttäuschung, das Gerede. Nein, wenn das Herz sich ergeben hatte, war man in einer seelischen Folterkammer und allen Spielarten des Leids ausgeliefert.
Der Zurückweisung, bei der man sich wie ein ausgesetztes Kind fühlte. Der Einsamkeit, die einem das Blut gefrieren ließ. Der Leere, die die Seele ausweidete.
Nein. Lacy wich zurück. Nie wieder. Nicht, dass sie es nicht wagen wollte – sie konnte es nicht. Sie besaß ganz einfach nicht mehr die Kraft dazu.
Sie ignorierte das Verlangen, das sich nun in ihr auszubreiten begann, und löste sich langsam wieder aus seinen Armen.
“Was hast du?”, fragte Adam heiser. “Was ist denn?”
“Ich muss zurück”, sagte sie und machte einen weiteren Schritt von ihm fort. Sie fühlte, wie das kalte Wasser ihren Rocksaum umspülte und ihre Füße im nassen Sand versanken. Aber sie wahrte die Haltung und verbarg ihre Gefühle dahinter.
“Ich weiß, du wolltest mich nur trösten”, sagte sie und lächelte höflich. Distanziert. Obwohl ihre Lippen sich erhitzt und geschwollen anfühlten. “Und dafür bin ich dir dankbar, wirklich. Aber jetzt geht es mir besser. Und bestimmt fragen die anderen sich schon, wo ich bleibe.”
Wie aufs Stichwort drehte sich der Wind und trug die Musik und Stimmen mit sich. Dann schrie jemand belustigt auf, und alle lachten.
Adam tat, als würde er es nicht hören.
“Das war kein Trost, Lacy. Das war Sex. Oder er wäre es sehr bald geworden. Und das weißt du so gut wie ich.”
Lacy rang sich ein leises Lachen ab, so anmutig und dezent, dass es kaum die Brandung übertönte. “Oh, ich glaube nicht, dass es wirklich dazu gekommen wäre.” Sie zeigte auf die in der Ferne flackernden Fackeln. “Dies ist wohl kaum die Zeit oder der Ort für derartige … Ausrutscher. Es war dumm von mir. Tut mir leid. Ich hätte dich nicht küssen dürfen. Mir ist vollkommen unerfindlich, was ich mir dabei gedacht habe.”
“Du hast gar nicht gedacht.” Adam wurde nicht laut, aber sie wusste, dass er wütend war. Selbst nach all den Jahren kannte sie jede Nuance seiner Stimme. “Du hast gefühlt. Erinnerst du dich noch daran, wie es ist zu fühlen, Lacy? Das solltest du wirklich häufiger probieren.”
10. KAPITEL
L acy versuchte, sich auf den Entwurf für eine Broschüre zu konzentrieren, der aufgeschlagen auf ihrem Schreibtisch lag. Wenn sie ihn heute nicht fertigstellte, würde sie das Heft nicht mehr rechtzeitig verschicken können. Und das musste sie unbedingt
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