Wie Jakob die Zeit verlor
zurückkann.
Ein Schatz! Ungehalten schnaubt er auf und hat Philips Anwesenheit beinahe vergessen. Was er besitzt, ist kein Schatz, sondern die Büchse der Pandora. Und er hat sie geöffnet, hat alles Unheil freigelassen und muss lernen, mit den Folgen zu leben.
„Ich muss los“, sagt er plötzlich und springt auf.
„Was? Jetzt? Wohin?“
„Zu Marius.“
Philip sieht ihn an, als hätte Jakob den Verstand verloren, aber vielleicht hat er das ja auch. „Ähm … das ist doch der, der gestorben ist, oder?“
„Ja, genau.“ Jakob ist schon dabei, seine Autoschlüssel zu suchen, und merkt gar nicht, dass Philip ihn beinahe mitleidig beobachtet.
„Aber wenn er tot ist … Mann, Alter, drehst du jetzt völlig am Rad?“
„Wenn du nicht mitkommen willst, dann bleib eben hier. Ich fahre jetzt.“
„Aber wohin?“
„Das siehst du dann schon. Also?“
Kopfschüttelnd steht Philip auf. Wahrscheinlich ist es im Moment nicht gut, Jakob allein zu lassen. Wenn jemand auf einen Nervenzusammenbruch zusteuert, dann dieser Kerl.
Das also ist der Raum, dem Jakob seine intimsten Geheimnisse anvertraut! In dem er seine Seele öffnet, über Marius redet und vielleicht auch über ihn, Arne. Wäre es nicht so lächerlich, würde er tatsächlich Eifersucht empfinden. Kann man auf die gelbe Farbe an den Wänden, auf eine verschwommene Fotografie, eine Couch und zwei Stühle überhaupt eifersüchtig sein? Aber das unscheinbare Mobiliar hat in wenigen Monaten mehr über Jakob erfahren als er in einer endlos anmutenden Reihe von Jahren. Vielleicht ist es auch eher Neid, was Arne fühlt. Und vielleicht ist dieses Gefühl auch weniger auf das Mobiliar in diesem Raum gerichtet als auf die Frau, die ihm gegenübersitzt, mit einem Notizblock auf dem Schoß.
Die Therapeutin hat ihre Augen geschlossen und denkt nach. Gerade hat Arne ihr erzählt, wer er ist und was er von ihr erwartet. Sie ist seine letzte Hoffnung; wenn sie ihm keine Antworten geben kann, dann, so hat er sich vorgenommen, wird er Jakob ad acta legen und ein neues, ein anderes Leben beginnen. Er wird sich eine neue Stadt suchen, einen neuen Job, eine neue Wohnung und dort wieder anfangen, wo Jakob ihn zurückgelassen hat. Und er wird sich fürs Erste nicht mehr verlieben. Das hat er sich geschworen, gleich nachdem Philip aus dem Brauhaus gestürmt ist und sich Arnes Magen verkrampft hat, weil er zu feige war, den Jungen zu verteidigen. Als ihm klar wurde, dass er ihn deshalb nicht mehr wiedersehen würde.
Die Stimme der Therapeutin schreckt ihn auf. „Ich kann Ihnen nicht helfen, Herr Konitzer. Es tut mir leid.“
Arne räuspert sich, um seine Enttäuschung zu verbergen. „Warum nicht?“
„Sie erwarten etwas im höchsten Maße Unprofessionelles. Was zwischen meinen Klienten und mir in diesen vier Wänden besprochen wird, ist vertraulich. Und ich denke, das war Ihnen auch schon bewusst, als Sie hierhergekommen sind, oder?“ Arne errötet. Frau Dr. Leggs hat ihn schnell durchschaut. „Ich kann Ihnen einen Kollegen empfehlen, wenn Sie für sich selber eine Therapie in Erwägung ziehen.“
„Nein. Ich dachte nur, Sie könnten mir helfen, Jakob zu verstehen.“
„Und ich dachte, Sie hätten die Beziehung bereits beendet?“ Die Therapeutin sieht ihn aufmerksam an, und Arne bekommt einen Eindruck davon, wie treffend ihre Bemerkungen sein können. Dann steht sie auf und begleitet ihn zur Tür. „Soviel ich weiß, waren Sie länger mit Herrn Brenner befreundet als sonst jemand, inklusive Marius“, sagt sie zum Abschied.
„Mehr als acht Jahre“, murmelt Arne.
„Und warum, glauben Sie, ist das so?“
Es ist eine Frage, die sich Arne noch nie gestellt hat.
Es dauerte lange, bis Jakob bereit war, eine Beziehung mit Arne einzugehen. Geradezu altmodisch hatte Arne um ihn werben müssen: mit Kinobesuchen, romantischen Spaziergängen am Rhein, bei denen sie unter buntem Herbstlaub wie Kinder Kastanien sammelten, aber auch mit einem Stadionbesuch bei einem Heimspiel des FC, bei dem Jakob stolz einen FC-Schal trug und sich über Arnes neu erworbenes Podolski-Shirt lustig machte.
„Bist du FC-Fan oder findest du nur Poldi geil?“ Dabei hatte er obszön an seiner Bratwurst geleckt und ein paar irritierte Blicke der neben ihnen stehenden Zuschauer geerntet.
„Beides natürlich. Und beiß endlich ab, sonst kriegen wir hier ein paar aufs Maul!“, hatte Arne gezischt und verlegen gekichert.
Es hatte geregnet an diesem Tag, feiner Sprühregen, der sich mit der
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