Wie Jakob die Zeit verlor
Zeit einen Weg durch ihre Jacken bahnte und ihnen in kleinen Rinnsalen den Nacken hinunterlief. Unwillkürlich waren sie enger zusammengerückt, um beide Zuflucht unter dem Schirm zu finden. Jede zufällige Berührung löste bei Arne ein Kribbeln aus, wie ein gerade noch spürbarer elektrischer Schock.
Er erinnert sich, dass er manchmal an Jakobs Unentschlossenheit, seinem Zögern zu verzweifeln drohte. Jedes Mal, wenn er das Thema einer gemeinsamen Zukunft ansprach, hatte Jakob die Unterhaltung in eine andere Richtung gelenkt, so unauffällig, dass sich Arne erst hinterher dieser Tatsache bewusst wurde. Aber er erinnert sich auch daran, wie glücklich er war, als Jakob endlich zustimmte.
Jakob wohnte damals in einer Zweizimmerwohnung, vollgestopft mit viel zu vielen Möbeln, die eine doppelt so große Wohnung hätten ausfüllen können. Abends, wenn die Sonne eine bestimmte Position überschritten hatte und Staubfusseln in einem diffusen Licht tanzten, fühlte sich Arne in den Fundus eines Museums versetzt, einen Ort, an dem überzählige und vergessene Ausstellungstücke verwahrt werden und besserer Zeiten harren. Einmal erschrak er fast zu Tode, als er im Halbschatten zwischen der Wand und ein paar Zimmerpflanzen eine gesichtslose Gestalt wahrnahm – bis er erkannte, dass er eine Schaufensterpuppe anstarrte, die ihm in einer seltsam um Hilfe bittenden Geste die Hände entgegenstreckte. Ein anderes Mal stolperte er über ein riesiges Glas voller Matchboxautos, aufgestellt auf einem niedrigen Tisch, wie ein Schrein mit absonderlichen, blechernen Reliquien.
Ins Schlafzimmer war außer dem Bett ein billiger Schreibtisch aus Pressspan gequetscht worden, an dem Jakob seinen Bürokram erledigte, daneben ein riesiger, weißer Schrank, dessen Fächer nur zur Hälfte belegt waren. Unter dem Fenster befand sich eine Frisierkommode – ein Möbelstück wie aus einer anderen Epoche, aus dunklem Holz, mit einer grauen, schweren Marmorplatte und einem fast blinden Spiegel. Arne stellte sich eine junge Frau in einem aufregenden, schwarzen Charleston-Kleid an dieser Kommode sitzend vor, die hier ihre Schminkutensilien aufbewahrte und sich zurechtmachte, bevor sie mit einer Federboa um die Schultern in einen Jazz-Klub der zwanziger Jahre aufbrach. Außer einer Schale mit Muscheln stapelte Jakob auf dem Möbel nur Bücher über Gartenbau und Pflanzen, und Arne stieß sich beim Aufstehen die Knie daran, wenn er bei Jakob übernachtete.
Auf seinem Weg vom Schlafzimmer in den Wohnraum musste man sich an einer Jugendstilanrichte vorbeischlängeln, einem zweiten, verstellbaren Schreibtisch – eigentlich eher einem Zeichenbrett – und einem großen, schweren, mit Intarsien verzierten Wandschrank, in dem Jakob nie benutztes Porzellan mit blauem Zwiebelmuster aufbewahrte und das er nur mit Verachtung betrachtete. Dann gab es noch ein schwarzes Sofa, eine kleine, in die Ecke gequetschte Essecke und den Fernseher, der auf einer Lautsprecherbox der HiFi-Anlage balancierte. Damals hatte Arne angenommen, dass Jakob einfach Gefallen an den vielen Möbeln fand, sie sich vielleicht etwas unüberlegt angeschafft hatte und langfristig plante, in eine größere Wohnung umzuziehen und ihnen dort die gebührende Geltung zu verschaffen; Jakob hatte diesem Eindruck jedenfalls nie widersprochen. Erst nachdem er vor einigen Tagen mit Katrin geredet hat, ist Arne klar geworden, dass genau das Gegenteil der Fall gewesen ist: dass Jakob die Möbel aus der gemeinsamen Wohnung mit Marius herübergerettet hatte. Dass er sich von ihnen nicht trennen konnte.
Trotzdem war es gemütlich in dieser Wohnung. Wenn Jakob am Abend Dutzende Kerzen entzündete, deren flackernder Schein die Schatten der Möbel an den Wänden tanzen ließ wie seltsam klobige Derwische, und sphärische Musik von Vangelis in den CD-Player legte, kam Arne sich vor wie in einer anderen Welt, abseits des Alltags, eine Welt, die nur Jakob heraufbeschwören konnte.
Sie lagen eng aneinandergekuschelt auf der Couch, nach einem ausgiebigen Essen und einer etwas routinemäßigen, für Arne enttäuschend schnellen Nummer. Doch er hatte bereits begriffen, dass das Benutzen eines Gummis für Jakob den Reiz am Sex minderte und er seine Ansprüche diesbezüglich herunterschrauben musste, wenn er mit Jakob zusammen sein wollte. Aber es gab Wichtigeres in einer Beziehung, oder? Zum Beispiel diese blauen Augen, deren Melancholie ihn faszinierte; zum Beispiel die verborgene Stärke, die er in Jakob
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