Wie Kinder heute lernen
Eltern, die klare und definierte Störungen bei ihrem Kind wahrnehmen, nicht davon abhalten, Diagnose- und Fördermaßnahmen in Anspruch zu nehmen. Aber sie sollten sich davor hüten, rein präventiv etwas testen zu lassen. Und sie müssen ihrem Kind einfühlsam zur Seite stehen, wenn diese Maßnahmen nötig werden. So kann der Besuch in einer psychologischen Praxis z. B. in einen Ausflug eingebettet werden. Je nach Alter des Kindes sollten Eltern ihm sehr genau erklären, warum es einen Therapeuten aufsuchen muss, dass dieser Umstand allein es aber noch nicht zu einem Außenseiter macht. Vor allem sollten Eltern nie versuchen, ihr Kind mit Do-it-yourself-Tipps und Übungen selbst zu therapieren, wenn sie eine der in den nächsten Kapiteln beschriebenen Lernstörungen vermuten. Zumindest zu Beginn ist es dringend ratsam, professionelle Hilfe, die in fast allen Fällen kostenlos ist oder von den Krankenkassen oder Jugendämtern getragen wird, in Anspruch zu nehmen. Im optimalen Fall sollten erwogene und begonnene Therapien in Absprache mit den entsprechenden Lehrern diskutiert werden. Natürlich sollen und müssen Eltern sich einbringen und nicht die Behandlung komplett dem verantwortlichen Therapeuten und Lehrer überlassen. Aber ein Alleingang nach dem Motto »Ich weiß am besten, was meinem Kind hilft« ist oft nicht nur kontraproduktiv, sondern auch eine Belastung für das emotionale Eltern-Kind-Verhältnis.
Der Umgang mit Kindern, die möglicherweise eine Lernstörung haben, ist eine schwierige Gratwanderung für Eltern. Auf der einen Seite wollen sie ihren Kindern helfen, auf der anderen müssen sie verhindern, dass ihre Kinder sich anormal fühlen. Sie müssen regulierend eingreifen, aber auch Fehler zulassen und
den Kindern die Fähigkeit vermitteln, sich selbst zu helfen. Wulf Wallrabenstein, Erziehungswissenschaftler an der Universität Hamburg, rät Eltern anhand einer als Metapher zu verstehenden Geschichte von Charles Dickens, wie sie sich im Umgang mit möglichen Lernstörungen bei Kindern verhalten sollten:
»Es gehört keine geringe Kaltblütigkeit und ein besonderer Grad von Beurteilungskraft dazu, einen fortrollenden Hut wieder einzufangen. Man darf nicht zu sehr eilen, sonst stürmt man über ihn hinaus; man darf nicht zu langsam sein, sonst verliert man ihn. Die beste Art, ihn einzufangen, ist, möglichst zu gleicher Linie mit dem verfolgten Gegenstand zu bleiben, behutsam und vorsichtig zu sein, die Gelegenheit hübsch abzuwarten, ihm allmählich zuvorzukommen, dann plötzlich die Hand auszustrecken, ihn bei der Krempe zu ergreifen und fest auf den Kopf zu drücken …«.
Im Folgenden sollen - in sehr gekürzter Form - die wichtigsten Lernstörungen und ihre neurobiologischen Ursachen (soweit bekannt) vorgestellt werden.
Die Lese-Rechtschreib-Störung (LRS)
Die Legasthenie (oder auch Dyslexia) ist eine Lese-Rechtschreib-störung, die jedoch nicht mit einer Verminderung der Intelligenz oder einer Sinnesbehinderung (wie z. B. Schwerhörigkeit) einhergeht. Sie wird bei etwa vier Prozent der Kinder eines jeden Schuljahrgangs diagnostiziert. Dabei sind viermal mehr Jungen als Mädchen betroffen - die Gründe dafür sind noch nicht bekannt.
Unter der Legasthenie versteht man eine massive und lang andauernde Störung des Erwerbs der Schriftsprache. Legastheniker haben Probleme mit der Umsetzung der gesprochenen zur geschriebenen Sprache - trotz häufigen Übens und oftmals überdurchschnittlicher Intelligenz. Die Störung äußert sich vor allem in der Umstellung und Verwechslung einzelner Buchstaben oder ganzer Wortteile.
Die offizielle Definition lautet: »Legasthenie gilt in der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) als umschriebene Entwicklungsstörung der Lese-Rechtschreib-Fertigkeiten bei normal entwickelter Intelligenz.« Sie ist also eine neurologisch begründete Störung, die wahrscheinlich genetische Ursachen hat. Sie hat weder mit minderer Intelligenz zu tun noch mit einer geistigen Behinderung oder mangelnder Fürsorge der Eltern!
Um den diagnostischen Blick der Eltern zu schärfen, seien exemplarisch einige bei Legasthenikern zu beobachtende Symptome genannt. Die eigentliche Diagnose sollte man aber lerntherapeutischen Fachkräften überlassen; Informationen hierzu kann man über die Schule bekommen.
› Häufiges Auftreten von spezifischen Rechtschreibfehlern, z. B. wenn die Reihenfolge von Buchstaben in Wörtern vertauscht wird und symmetrische Buchstaben
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