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Wie kommt das Salz ins Meer

Wie kommt das Salz ins Meer

Titel: Wie kommt das Salz ins Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Schwaiger
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paar Autos. Diese Straße wurde gebaut, als man mit Tourismus rechnen durfte, weil unsere kleine Stadt an der tschechoslowakischen Grenze liegt, und man spürte plötzlich wieder, daß wir Grenzland sind, es gab Verkehr hinein und heraus aus der Tschechei, wie man hier sagt. Eine Autobahn sollte gebaut werden. Unsere Geschäftsleute rechneten mit höheren Umsätzen. Dann schlossen sie oben die Grenze wieder, und übriggeblieben ist nur die Umfahrungsstraße. Sie führt am Kloster der Marienbrüder vorbei. Hier gabelt sich der Spazierweg. Ich kann den runzeligen Sandweg nach Sankt Peter hinaufgehen, an Gärten und Villen vorbei, oder ich kann um die Klostermauern herum in das Gebiet «hinterm Marianum» gelangen, zu Schrebergärten, Einfamilienhäusern, Wiesen, Sportplatz, Altweiberbänken. Hier kenne ich jeden Stein und jedes Grasbüschel, hier trifft man immer dieselben Leute, Stimmen, Gebärden, hier hat Karl mich in einer Winternacht an sich gerissen und zu küssen versucht. Vergewaltige mich, dachte ich, aber er entschuldigte sich und schrieb noch einen Brief, um sich ein zweites Mal zu entschuldigen. Hier hat einer, der Rolfi hieß, seine feuchte Hand in meinen Kleidausschnitt gedrängt, und dort war noch nichts, ich hatte mit Papiertaschentüchern etwas vorgetäuscht, und weil ich die dreizehnjährige Hand wegschob, hielt Rolfi mich für tugendhaft. Das kann es gewesen sein. Hinter dem Kloster der Marienbrüder sitzen die, die nach der Reihe aussterben, und man weiß nicht, wie sie geheißen haben, wenn man hört: Der ist jetzt auch gestorben, die hat ihre Lungenentzündung nicht mehr überstanden. Aber es wird einem geholfen, und jeder weiß dann: Der mit dem gelben Stock, seine Hände haben immer so gezittert, die mit dem karierten Kopftuch, sie hatte einen struppigen Hund.
    Einen anderen Weg gibt es rund um die Stadt, durchs Linzertor hinaus, dann rechts über die Promenade, am Brauhaus vorbei, zur Lichtenauerbrücke, zum Eislaufplatz, auf dem Tennis gespielt wird. Seit der sommerlich brachliegende Eislaufplatz mit roter Erde aufgeschüttet wird, weiß man, wer die besseren Leute bei uns in der Stadt sind. Wir gehören natürlich dazu, Rolf und Albert und Hilde und ich. Vorbei am Tennisplatz an den rostigen Gittern der Stadtgrabenumzäunung entlang, an den uralten, buckligen, geduckten Häusern, ihren schiefen, winzigen Fenstern, und dem Teich, in dem Karpfen nach Brotstücken schnappen, die man ihnen hinwirft, und vorbei am Kloster der Armen Schulschwestern, wo man mir beibrachte, daß die Juden das Jesuskind ermordet haben und wie man Topflappen häkelt, und daß ein Mädchen nicht pfeifen darf, weil bei jedem Pfiff die liebe Gottesmutter eine Träne weint, wenn er aus weiblichem Mund kommt. Die Straße hinüber geht es zur anderen Promenade, zur finsteren, den Bach entlang, wieder Gitterwände, hinter denen Hirsche und Rentiere zur Besichtigung eingeschlossen sind, bitte nicht füttern, das Hirschenpaar heißt Karl und Hilde, vorbei an der Mühle, dessen Besitzer an Mehlstaub in der Lunge gestorben ist, vorbei an den Stadtmauern, wo Gefängnis und Pfarrhof dicht nebeneinanderliegen, alles hinter Mauern. Aber das Gefängnis gibt es nicht mehr. Es gibt keine richtigen Verbrecher in unserer Stadt. Und wenn, dann werden sie nach Linz transportiert. Einen letzten gab es, als die Grenze zur Tschechoslowakei frei war: Ein Deutscher hatte ohne anzuhalten das Niemandsland durchfahren. Er wurde verhört von den österreichischen Grenzposten, er zeigte seine Papiere, die alle in Ordnung waren, er mußte aber der Ordnung halber einige Tage im Gefängnis unserer Stadt absitzen, weil er immer nur gesagt hatte «Spaß muß sein!» Man wußte mit so einem nichts anzufangen, und es war Sommer, die Rosen unter der Gefängnismauer blühten dunkel, und viele gingen abends in den Stadtpark, um das Gesicht des Wahnsinnigen zu sehen, aber der zeigte sich nicht, man war enttäuscht, und es stellte sich heraus, daß er wirklich nur aus Spaß ohne anzuhalten aus der Tschechoslowakei durchs Niemandsland nach Österreich hatte fahren wollen.
    Es gibt noch den Spaziergang zum Waldrand, und Albert wartet seit fünf Uhr, jetzt ist es sieben, er hat gefürchtet, ich würde nicht mehr kommen, hat sich vorgestellt, wie das wäre, wenn ich nicht mehr käme, fühlte sich unglücklich, spürte ein Würgen im Hals, und dann, sagt Albert, bist du den Weg heraufgelaufen, wie du noch nie gelaufen bist, und die Wolken haben sich

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