Wie Krähen im Nebel
gemeint, ganz zufrieden dahinzuleben, nach seiner Trennung von Carlotta. Da war die Arbeit, seine kleine Wohnung über den Dächern von Siena, ein paar Freunde, sein alter Vater Fernando. Guerrini frühstückte meist in der kleinen Bar am Rand des Campo, las die Zeitung und wechselte ein paar Worte mit anderen Frühaufstehern. Es gab immer Anlass für ein paar deftige Sätze über die Regierung, die allgemeine Weltlage, den Euro, das Wetter. Schaffte Geborgenheit, beinahe Nähe zwischen Carabinieri, Straßenkehrern, Briefträgern und alten Witwern. Es waren immer nur Männer, die so früh am Morgen an der Bar lehnten undihren Kaffee tranken. Auch seine Kollegen in der Questura waren Männer, bis auf zwei, drei Sekretärinnen mittleren Alters. Es war ihm bisher gar nicht so aufgefallen, doch durch die Begegnung mit der deutschen Kommissarin war er aus dem Tritt geraten. Er kam sich festgefahren vor, eingeengt. Erschrak bei der Vorstellung, dass er bis an sein Lebensende so weitermachen könnte. Wie sein Vater, der vierzig Jahre lang mit toskanischer Keramik gehandelt hatte. Den großen Laden in der Nähe des Doms hatte er inzwischen verkauft, aber im Exportgeschäft mischte er noch ein bisschen mit, obwohl er im letzten Monat sechsundsiebzig geworden war.
Er war noch immer verärgert darüber, dass sein einziger Sohn kein Interesse an toskanischer Keramik zeigte, sondern zur Polizei gegangen war. Zumal er selbst nicht nur einmal Schwierigkeiten mit der Guardia di Finanza gehabt hatte – wegen illegaler Exporte von Keramik nach Amerika und solcher Sachen. Aber Guerrinis Vater meinte ohnehin über dem Gesetz zu stehen, weil er als Partisan gegen die Deutschen gekämpft hatte. Obwohl er damals beinahe noch ein Kind war und höchstens drei oder vier Monate bei den Partisanen gewesen sein konnte. Das jedenfalls hatte Guerrini einmal ausgerechnet. In den Erzählungen seines Vaters hörte es sich stets an, als wäre er mindestens vier Jahre dabei gewesen und als sei es allein sein Verdienst, dass die Deutschen sich aus Italien zurückgezogen hätten.
Guerrini lachte leise vor sich hin, wenn er an die mythenhaften Erzählungen seines Vaters dachte. Früher hatte er ihn dafür verachtet – inzwischen bewunderte er die Fähigkeit des alten Mannes, die Vergangenheit nach seinen Wünschen und Bedürfnissen zu gestalten. Er machte ein rundes, beinahe heldenhaftes Leben aus etwas, das nicht besonders spektakulär und gelungen war. Einzig die Ehe mit Guerrinis Mutter beschönigte er nicht.
«Deine Mutter war eine wunderschöne Frau – aber sie war eine Hexe!», pflegte er zu sagen. Bei ihrem Tod vor drei Jahren hatte er angemessene Trauer gezeigt, aber nicht mehr. Und seitdem blühte er regelrecht auf. Guerrini war so in Gedanken, dass er ein paar Meter am Haus seines Vaters vorüberlief.
Das ist auch so ein Ritual, dachte er. Jeden Mittwochabend esse ich mit meinem Vater, ob ich Lust habe oder nicht. Warum mache ich das? Warum essen wir nicht dann gemeinsam, wenn wir uns wirklich sehen wollen – mal am Donnerstag, mal am Montag und mal überhaupt nicht? Alles so zwanghaft!
Guerrini kehrte um, zog im Schein einer Laterne sein Handy aus der Jackentasche und überprüfte, ob es eingeschaltet war. Zum dritten Mal an diesem Abend! Warum, zum Teufel, rief sie nicht an?
Zögernd klingelte er endlich an dem alten Tor, hörte den Hund Tonino bellen, die Schritte seines Vaters, die Frage: «Bist du’s, Angelo?», und hatte das Gefühl, als wäre die Zeit stehen geblieben, als reihte sich ein Mittwochabend an den andern – mit immer demselben Bellen des Hundes, den schlurfenden Schritten und der Frage: «Bist du’s, Angelo?»
«Ja, ich bin’s!», hörte er sich rufen und wusste plötzlich, dass er Laura nicht so einfach aufgeben würde. München war nicht so weit von Siena entfernt. Acht Stunden mit dem Auto. Anderthalb mit dem Flugzeug von Florenz! Er konnte sie jederzeit besuchen, hatte noch jede Menge Urlaub. Und sie hatte ihm versprochen, das neue Jahr mit ihm zu erleben.
«Ah, da bist du ja, Angelo!», rief der alte Guerrini, riss die Tür weit auf und tätschelte kurz den rechten Arm seines Sohnes. Tonino, der Hund, kringelte sich um die Beine des Commissario, warf sich dann auf den Rücken und grinste mithalb offenem Maul, aus dem seitlich die lange rosa Zunge hing. Guerrini bückte sich und klopfte auf den Bauch des alten Jagdhundes.
«Ich hab zwei Fasane gebraten und zur Sicherheit noch ein Perlhuhn. War mit Giorgio
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