Wie Krähen im Nebel
Ruhe haben und nicht mit Fragen behelligt werden.
«Das hier ist Niemandsland!», pflegte er seinem Team immer wieder einzubläuen. «Jeder hier kämpft um diesen winzigen existenziellen Funken, der alles entscheidet. Wir kämpfen mit den Patienten und sie kämpfen für sich selbst. Die Welt da draußen ist angesichts dieser existenziellen Situation vollkommen unwichtig. Es kommt nicht darauf an, was oder wer ein Mensch ist, sondern ob er lebt oder stirbt.»
Existenziell war so ein Lieblingswort des Oberarztes. Er merkte gar nicht, dass alle andern zu grinsen anfingen, wenn er es aussprach. Balnjewski dachte da weniger radikal. Er glaubte mehr an den Sinn bestimmter Zustände, in denen Menschen sich befanden. Im Gegensatz zu Standhaft war er auch der Meinung, dass viele der Patienten gar nicht kämpften und auch nicht gerettet werden wollten, sondern ihren Weg schon allein finden würden – entweder zurück ins Leben oder hinaus in die große Freiheit. Aber darüber konnte er mit Standhaft nicht reden. Der befand sich beinahe ununterbrochenin einem erbitterten Kriegszustand. Sein Feind war der Tod, die Intensivstation das Schlachtfeld.
Und so war Dr. Balnjewski sehr froh, als Laura Gottberg irgendwas von «mal wieder vorbeischauen» murmelte, als sie eine halbe Stunde nach seinem Anruf die Intensivstation betrat. Hinter vorgehaltener Hand verbarg er sein Lächeln, als sie den Oberarzt fragte, ob der Komapatient Fortschritte mache.
Dr. Standhafts kleiner Kopf schien noch mehr nach oben zu entschwinden, er kniff die Lippen zusammen und sagte knapp: «Es sieht so aus, als könne er wieder hören. Aber sicher ist es nicht!»
«Darf ich zu ihm?», fragte die Kommissarin, und Balnjewski wartete gespannt auf die Antwort seines Vorgesetzten.
«Eigentlich nicht!», sagte Standhaft. «Es könnte sich negativ auf den Prozess des Aufwachens auswirken. Er könnte erschrecken und sich wieder ins Koma zurückziehen. Sehen Sie, die Rückkehr ins Leben, ins Bewusstsein, ist ein existenzieller Vorgang, den niemand stören darf.»
Balnjewski hielt beinahe den Atem an. Eine Schwester, die hinter dem Oberarzt stand, verdrehte die Augen und hielt eine Hand vor ihre Stirn. Balnjewski war sicher, dass die Kommissarin es gesehen hatte.
«Ahhhja!», sagte sie jetzt langsam. «Natürlich ist es ein existenzieller Vorgang. Aber ich kenne mich mit solchen Dingen aus. Ich verspreche Ihnen, dass ich ihn nicht erschrecken werde. Und ich werde ihm auch keine Frage stellen, sondern einfach nur kurz ansehen.»
«Und warum? Sagen Sie mir einen einzigen vernünftigen Grund, warum Sie sich diesen um sich selbst ringenden Menschen ansehen wollen? Macht es Ihnen Spaß, Leidende zu beobachten? Es wird Sie keinen Schritt weiterbringen bei Ihren Ermittlungen! Keinen Schritt!»
Oh, dachte Balnjewski und legte den Kopf ein wenig zur Seite um noch genauer hören zu können. So ärgerlich war Standhaft noch nie geworden.
«Das kann man nie so genau sagen, Herr Oberarzt. Wissen Sie, meine Arbeit und Ihre Arbeit unterscheiden sich gar nicht so sehr. Bei uns geht es darum, eine gewisse Form der Wahrheit herauszufinden. Auch etwas Existenzielles, nicht wahr. Manchmal findet man Wahrheit nur durch genaues Hinsehen!» Balnjewski bewunderte die Ruhe, mit der die Kommissarin antwortete. Er selbst hätte vermutlich zu brüllen angefangen. Das passierte ihm leider viel zu schnell, wenn er sich aufregte. Den Rest der Auseinandersetzung konnte er nicht mehr verfolgen, denn bei einem der anderen Patienten gaben die Maschinen schrille Warnsignale von sich. Herzflimmern. Doch er versäumte nicht viel, denn auch der Oberarzt und die Schwester eilten mit ihm ans Bett des Schwerkranken. Und so stand Laura Gottberg plötzlich allein.
Sie nutzte den Augenblick der Verwirrung und schlüpfte unbemerkt in den Seitenraum, in dem der junge Mann lag. Diesmal trug sie keinen grünen Mantel, keine Plastikhüllen um die Schuhe. Die Veränderung an ihm nahm sie sofort wahr. Sein Körper war wieder lebendig, sein Atem tiefer. Er schien ihre Gegenwart zu spüren, denn seine Wimpern zuckten kaum merklich, als versuche er zu blinzeln. Laura blieb neben seinem Bett stehen, sah sich kurz nach einem Stuhl um, doch in diesem Überlebenslabor war es offenbar nicht vorgesehen, dass jemand sich niederließ.
Ich darf ihn nicht ansprechen, dachte sie. Vielleicht fühlt er sich wie in einem Fiebertraum. Ich weiß, wie das ist – als kratze jemand mit Nadeln über Knochen und Nerven.
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