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Wie man einen verdammt guten Roman schreibt

Wie man einen verdammt guten Roman schreibt

Titel: Wie man einen verdammt guten Roman schreibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James N. Frey
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soll sie also wissen, was passiert ist? Vielleicht erzählt die Tochter es ihr später. Was ist, wenn sich die Tochter mit ihrer Mutter nicht versteht? Wie stellen Sie glaubwürdig dar, daß die Tochter der Mutter überhaupt irgend etwas erzählt?

        Ein Ich-Erzähler hat die zusätzliche Schwierigkeit, die Gefühle der übrigen Figuren nur über ihr Aussehen und über die Art, wie sie sprechen und handeln, darstellen zu können. Das bedeutet eine erhebliche Herausforderung für einen unerfahrenen Autor.

        Außerdem ist es äußerst schwierig, eine längere Erzählung in der ersten Person zu schreiben, ohne den Leser zu langweilen. Der ständige Gebrauch des »Ich« hört sich über kurz oder lang an, als ob sich die Figur beklagt, wenn Sie ihre Gefühle beschreiben, oder als ob sie prahlt, wenn Sie von ihren Taten berichten.

        In J.D. Salingers Fänger im Roggen und Raymond Chandlers Marlowe-Geschichten sieht das alles ganz einfach aus. J.D. Salinger und Raymond Chandler tragen die Verantwortung für viele gescheiterte Erstlingsromane.

    DER AUKTORIALE ERZÄHLER

    Wenn dargestellt wird, was sich in den Köpfen sämtlicher Figuren abspielt, dann wird die Geschichte von einem allwissenden, dem auktorialen Erzähler erzählt. Das ist natürlich unter allen möglichen Perspektiven die subjektivste. Der allwissende Erzähler war besonders beliebt im viktorianischen Roman. Das Hauptinteresse des viktorianischen Romanschriftstellers galt der Gesellschaft; deshalb hielt man es für das Beste, zu jedermanns Gedanken und Motiven Zugang zu haben, um ein klares und vollständiges Bild der Gesellschaft entwerfen zu können. Einviktorianischer Romancier würde normalerweise die Gedanken jeder einzelnen Figur in einer bestimmten Szene folgendermaßen offenlegen:

        Henry kam um zwei Uhr morgens an und fühlte sich müde und benommen (seine innere Verfassung, seine Perspektive). Kathryn begrüßte ihn an der Tür und dachte, er sehe aus wie eine aus dem Wasser gezogene Ratte (ihre Perspektive). Sie führte ihn sofort in die Bibliothek, wo ihn der alte Großvater unter dem Kronleuchter auf und ab schreitend erwartete. Er war seit dem Mittag dort hin und her gegangen, sein Magen war aufgewühlt, und sein erschöpfter Verstand befand sich in einem schrecklichen Aufruhr (die innere Verfassung des Großvaters, dessen Perspektive).

        Das Ergebnis war interessant und machte es möglich, dem Leser ein eindrucksvolles Bild der Gesellschaft und ihrer Mechanismen zu vermitteln, doch wegen der ständig wechselnden Perspektive konnte sich der Leser nicht lange genug in eine bestimmte Figur hineinversetzen, um sich mit ihr zu identifizieren. Deshalb waren diese Figuren dem Leser nicht besonders vertraut. Aus diesem Grund werden heute nur noch sehr wenige Romane von einem auktorialen Erzähler geschrieben.

    DER EINGESCHRÄNKT AUKTORIALE ERZÄHLER

    Die moderne Form der auktorialen Erzählperspektive ist der eingeschränkt auktoriale Erzähler, und das ist in der Tat eine sehr wirkungsvolle Technik. Sie funktioniert folgendermaßen: Der Autor nimmt für sich das Recht in Anspruch, in die Köpfe bestimmter Figuren hineinzusehen, und in die der anderen nicht. Diese auserwählten Figuren, normalerweise der Protagonist und zwei bis drei weitere, bezeichnet man als »personalen Erzähler«. Dadurch, daß der Erzähler im Kopf einer Figur angesiedelt ist, lebt der Leser - aufgrund des Zaubers der Identifikation - das Leben dieser Figur. Im Gegensatz zum allwissenden Erzähler braucht der Leser bei dieser Erzählperspektive den Standpunkt nicht allzu oft zu wechseln, sondern er hat die Möglichkeit, sich mit mehr als einer Figur vertraut zu fühlen.

        Die oben vorgeführte viktorianische Szene könnte aus eingeschränkt auktorialer Sicht folgendermaßen beschrieben werden:

        Als Kathryn die Tür öffnete, erschrak sie sehr: da stand Henry, durchnäßt, verhärmt und müde. Er sah völlig benommen von der Kälte aus. Sie führte ihn sofort in die Bibliothek, wo ihr alter Großvater mit gebeugten Rücken unter dem Kronleuchter auf und ab ging. Er war - wie sie wußte seit dem Mittag dort. Sie vermutete, daß sein erschöpfter Verstand sich in fürchterlichem Auf-ruhr befand (alles aus Kathryns Sicht).

        Eine extreme Form des eingeschränkt auktorialen Erzählers besteht in der Beschränkung auf eine einzige Perspektive. Hier haben wir fast alle Nachteile einer Ich-Erzählung, außer daß der

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