Wie Sand in meinen Händen
geküsst hatte. Er hatte sie an sich gepresst, wenn sie vor Kälte zitterte.
Und im Sommer vor seiner Festnahme war er eingesprungen, als Bernie Hilfe brauchte; er hatte eine Schubkarre mit Felsbrocken und eine Schale mit Mörtel herbeigeschafft, die Maurerkelle seines Urgroßvaters geschliffen und die rauhen Kanten des Zements geglättet.
»Was soll hier gemacht werden?«, fragte John und sah sich um, als er die kühle, moosbewachsene Höhle betrat, die sein Urgroßvater erbaut hatte.
»Einige Stellen sollen neu verfugt werden und ein paar Steine wieder eingesetzt werden. Einer ist spurlos verschwunden – Vandalen, vermutlich …«
»Studenten?«
»Wer weiß. Offensichtlich mit spirituellen Neigungen, wie aus den Graffiti hervorgeht.« Tom deutete auf die Inschrift.
John las:
ICH SCHLIEF , ABER MEIN HERZ WAR WACH .
»Wer könnte das gewesen sein?«, fragte John. Er warf Tom einen raschen Blick zu und sah, dass dieser ihn musterte. »Sag nicht, dass du mich in Verdacht hast!«
»Doch, habe ich.«
»Wie sollte das denn gehen? Glaubst du, ich hätte Hafturlaub beantragt, um von Irland nach Hause zu fliegen?«
Tom schüttelte den Kopf. »Die Inschrift wurde erst irgendwann im letzten Monat angebracht. Nach deiner Entlassung. Und davon abgesehen, wer wäre sonst bereit, sich mit einer solchen Geste als hoffnungsloser Romantiker zu erkennen zu geben?«
Die beiden Männer grinsten, weil es mit dem verbalen Schlagabtausch auch nach all den Jahren noch vorzüglich klappte. Tom hatte ihn immer damit aufgezogen, dass er Mauern und John Installationen errichtete, beides Kunstwerke, aber nur eines sein Geld wert.
»Ich war in Kanada, um mich zu akklimatisieren. Es wäre nicht gut gewesen, von Dublin direkt hierherzukommen – das sagte ich dir ja schon. Ich bin nach Halifax geflogen und habe mich langsam nach Süden vorgearbeitet. Das müsstest du doch am besten wissen, schließlich hast du mir meine Kamera zugeschickt und die Reise bezahlt. Ich habe mir mit der Rückkehr Zeit gelassen, das ist alles.«
Toms Augen verengten sich, als könnte er an Johns Miene ablesen, ob er die Wahrheit sagte.
»Du glaubst mir nicht?« John atmete tief durch. »Falls du herausfinden willst, ob jemand lügt, ist das unschwer zu erkennen. Laut Dermott McCann können die Leute einem dabei nicht in die Augen sehen, sondern senken den Blick und schauen nach links. Bei den Insassen von Portlaoise konnte man das ständig und bei fast jedem beobachten.«
»Wer ist Dermott McCann?«
»Ein alter Mann, der zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, weil er Dokumente für die IRA gefälscht hatte. Angeblich war sein Schwiegersohn schuld, hatte ihn in die Klemme gebracht. Aber das will nichts heißen, weil alle jemand anderem die Schuld an ihrer Misere gaben.«
»Alle außer dir.«
»Halt die Klappe, okay?«, sagte John, bemüht, Gleichmut zu bewahren. Der Aufenthalt in der Blauen Grotte löste Platzangst bei ihm aus. Er spürte, wie ihm der Schweiß zwischen den schmerzenden Schulterblättern hinunterrann.
»Na gut«, sagte Tom. »Du bist wieder frei, und was dort oben auf der Klippe geschah oder auch nicht, spielt ohnehin keine Rolle mehr. Es befanden sich nur drei Menschen auf diesem Riff und …«
John spürte, wie Wut in ihm aufstieg, seine Haut begann zu prickeln. Die Statue der Jungfrau Maria, umgeben von Votivgaben und handgeschriebenen Gebeten, blickte ihn mit ausgestreckten Armen an.
»Hier war es, richtig?«, fragte er, ohne den Blick von der Muttergottes abzuwenden oder sich umzudrehen. »Hier hat Bernie ihre Wahl getroffen.«
»Hey, was soll das. Das ist nicht fair.«
»Du hast deine Tabuzone, und ich habe meine.«
»Also gut. Waffenstillstand, ja?«
»Können wir gehen?« John hatte das Gefühl, als würden ihn die Wände erdrücken. »Ich muss an die frische Luft.«
Als sie hinausgingen, beugte er sich vor und atmete durch. Die Feuchtigkeit, die eisige Kälte und die Platzangst hatten ihn an Portlaoise erinnert.
»Im Gefängnis war Gewalt an der Tagesordnung«, erklärte John nach einer Minute. »Ich habe sechs Jahre lang mit diesen Gefühlen gelebt und sie bis heute nicht überwunden. Deshalb musste ich mir Zeit mit der Heimkehr lassen. Ich versuche, das alles abzuschütteln. Dort gab es nur eine Art, Probleme aus der Welt zu schaffen: rohe Gewalt.«
»Wolltest du jetzt gerade handgreiflich werden?«
John schüttelte den Kopf, obwohl er nicht sicher war. Die Erwähnung der drei Menschen auf dem Riff war ein
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