Wie soll ich leben?
bei seinen Themen oft so zusammenhangslos und in seinen Ansichten so sprunghaft, dass nicht immer ersichtlich ist, was er meint.» Honoriaverhilft ihm zu größerer Klarheit und fügt Fußnoten ein, weist ihn zurecht (etwa weil er die Massaker der Bartholomäusnacht unerwähnt lässt) und warnt die Leserinnen davor, die gefährlicheren seiner Ideen zu Hause auszuprobieren. Besonders Kinder sanft durch Musik zu wecken sei «eine exzentrische Art und Weise der Erziehung», die «hier keinesfalls als Methode empfohlen wird».
In ihrem Vorwort lässt sie einen unerträglich ernsten und rechtschaffenen Montaigne auftreten. «Seine Philosophie sollte nicht Spekulation bleiben, vielmehr wollte er sein ganzes Leben, nicht nur die Zeit im Alter nach deren Grundsätzen gestalten.» Auch seinen politischen Konformismus hebt sie hervor und verweist auf die «vielen erhabenen religiösen Ansichten, die in seine Essais eingestreut sind». Mit solchen Bemerkungen würde man heute keine Leser gewinnen, aber Honoria hatte den Markt des beginnenden 19. Jahrhunderts im Auge und schuf für diesen Markt einen stirnrunzelnden und nachdenklichen neuen Montaigne mit gestärktem Kragen.
Freilich schätzten auch im 19. Jahrhundert viele Leser den subversiven, individualistischen Montaigne, der sich keine Fesseln anlegen ließ. Doch Honoria – und nicht nur sie – machte ihn auch für andere Leser akzeptabel, die gleichfalls einen Montaigne nach ihrem eigenen Zuschnitt suchten. Jetzt konnten die Essais nicht mehr nur im Boudoir, auf einem romantischen Berggipfel oder in der Bibliothek eines Weltmanns gelesen werden, sondern von einer sittsamen, unschuldigen jungen Dame, die Montaigne an einem Sommertag im Garten in einer bereinigten Fassung im Oktavformat in der Hand hielt. Und was man ihr dort vorenthielt, das konnte sie in der Bibliothek ihres Vaters nachlesen.
Missionen und Morde
Montaigne schockiert tatsächlich immer wieder, aber nicht immer da, wo man es erwartet. Die Irritation ist dann am größten, wenn er nebenbei spricht und beispielsweise beiläufig sagt: «Ich frage mich, ob ich ohne Gesichtsverlust gestehen darf, wie wenig es mich an Ruhe und Seelenfrieden gekostet hat, mehr als die Hälfte meines Lebens mittenim Zusammenbruch meines Landes zu verbringen.» Es dauert ein paar Momente, ehe man begreift, was man da gerade gelesen hat: erstaunliche Äußerungen, egal, in welcher historischen Epoche. Doch dann wird einem klar, dass er keineswegs immer in Ruhe und Frieden leben konnte. In den 1580er Jahren hatte Montaigne immer wieder Verantwortung zu tragen, die ihm sehr viel abverlangte, sosehr er sie in den Essais auch herunterspielte.
Während seiner Amtszeit als Bürgermeister von Bordeaux herrschte zwar offiziell Frieden im Land, aber zu dem Zeitpunkt, als er sich wieder auf sein Gut zurückgezogen hatte, tat die katholische Liga alles, um einen neuen Krieg heraufzubeschwören. Es war auch längst nicht mehr nur ein religiöser Konflikt. Die wichtigste politische Frage lautete, wer Heinrich III. auf dem Thron nachfolgen sollte, da er keinen Sohn oder geeigneten nahen Verwandten hatte. Die Monarchie drohte zum Spielball politischer Kräfte zu werden.
Die meisten Protestanten und einige wenige Katholiken favorisierten Heinrich, den protestantischen König von Navarra, der in der Region Bordeaux sehr einflussreich und in der Erbfolge der französischen Krone am nächsten war. Seine Zugehörigkeit zum Protestantismus war jedoch sein größtes Hindernis. Sein Hauptrivale war sein Onkel Karl von Bourbon, auch Kardinal von Bourbon genannt, dessen Thronanspruch von den Ligisten und deren mächtigem Anführer, dem Herzog von Guise, unterstützt wurde. Der König selbst war allerdings noch am Leben und unschlüssig, welchen seiner potentiellen Nachfolger er unterstützen sollte. Die folgende Phase des Krieges wurde als «Krieg der drei Heinriche» bekannt – ein schwindelerregend schnell rotierendes Karussell mit Heinrich III., Heinrich von Navarra und Heinrich, Herzog von Guise.
Die politiques , unter ihnen auch Montaigne, unterstützten aus Prinzip den derzeitigen König, ungeachtet dessen, was er tat. Als Nachfolger befürworteten die meisten von ihnen Heinrich von Navarra, was den Hass der Ligisten noch weiter schürte. In den Augen der katholischen Extremisten war ein protestantischer König auf dem Thron gleichbedeutend mit dem Teufel.
In seiner politischen Rolle als Bürgermeister einer katholischen Stadt unweit des
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