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Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Bakewell
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starb einen Monat später.
    21. Februar 1583: «Wir bekamen eine weitere Tochter, Marie, die von dem Sieur de Jaurillac, Kanzler des Parlaments, ihrem Onkel, und meiner Tochter Léonor getauft wurde. Sie starb wenige Tage später.»

    Montaigne schrieb, er habe die meisten seiner Kinder verloren – «wenn gewiss nicht ohne Bedauern, so doch ohne darüber trübsinnig zu werden», weil sie noch so klein waren. Man versuchte damals, sich nicht allzu sehr an seine Kinder zu binden, solange sie noch nicht über das Säuglingsalter hinaus waren, denn die Säuglingssterblichkeit war sehr hoch. Montaigne scheint diese emotionale Distanz nicht schwergefallen zu sein. Sein Schmerz über den Tod seiner Kinder hielt sich in Grenzen, wie er selbst zugibt. Mitte der 1570er Jahre schrieb er sogar, er habe «zwei oder drei Kinder verloren», als sei ersich über deren Zahl nicht ganz sicher. Allerdings machte er generell nur vage Angaben über Daten und Zahlen, etwa wenn er seinen Reitunfall in «unseren dritten Religionskrieg oder den zweiten» datierte und hinzufügte: «Ich erinnre mich nicht mehr genau.» In der Widmung zu La Boéties Plutarch-Übersetzung an seine Frau geraten ihm die Details noch mehr durcheinander, wenn er meint, die erste Tochter hätten sie «im zweiten Jahre ihres Lebens» verloren; tatsächlich starb sie zwei Monate nach ihrer Geburt. Hier handelt es sich wohl eher um einen Schreibfehler. Oder doch nicht? Bei Montaigne hat man stets das Gefühl, alles sei möglich.
    Auch von anderen Schicksalsschlägen ließ er sich offenbar weniger tief berühren, als es hätte sein sollen:
    Ich sehe durchaus, dass es alltäglich genug andere Anlässe zur Betrübnis gibt, die ich als solche kaum wahrnehmen würde, wenn sie mir begegneten; und selbst von denen, die für die Leute den Inbegriff des Schreckens bilden, habe ich manche, als ich sie auf mich zukommen sah, derart leichtgenommen, dass ich nicht wagen würde, mich dessen öffentlich ohne Erröten zu rühmen.
    Man fragt sich, ob er hier an den potentiellen Tod seiner Frau oder seiner Mutter dachte, die ihn jedoch beide überlebten. Vielleicht dachte er aber auch an den Tod seines Vaters oder an die Gefahr einer Plünderung seines Schlosses oder an niedergebrannte Felder. Man hat fast den Eindruck, er hätte alles andere leichter verkraften können als den Tod La Boéties, der ihn völlig aus der Bahn warf. Dieser Verlust lehrte ihn, sich nie mehr so eng an etwas oder jemanden zu binden.
    Tatsächlich jedoch war wohl seine emotionale Distanz sehr viel geringer, als er behauptete. Seine schriftlichen Bemerkungen zum Tod seiner Kinder sind zwar schlicht, aber man spürt den Schmerz. Sein Essai «Über die Traurigkeit» – entstanden Mitte der 1570er Jahre, als bereits mehrere seiner Kinder gestorben waren – enthält literarische Beispiele für die Trauer eines Vaters über den Tod seiner Kinder. Er schrieb auch einfühlsam über Niobe, deren Schmerz nach dem Verlust ihrer sieben Söhne und anschließend ihrer sieben Töchter so groß war, dass sie in einen Fels verwandelt wurde, «um solcherart diese dumpfe,taubstumme Reglosigkeit auszudrücken, die uns jedes Mal erfasst, wenn Schicksalsschläge auf uns niederwuchten, denen wir nicht gewachsen sind». Aufgrund eigener Erfahrung konnte Montaigne diesen Kummer sicherlich nachempfinden.
    Der obersten Pflicht eines Adligen, einen männlichen Erben in die Welt zu setzen, wurde Montaigne nicht gerecht, aber immerhin bekam er eine gesunde Tochter, Léonor, der er später sehr zugetan war. Sie wurde 1571 geboren, muss also nicht lange nach Montaignes offiziellem Rückzug aus seinen politischen Ämtern im Jahr 1570 gezeugt worden sein: im Zuge seiner Midlife Crisis und seiner geistigen Wiedergeburt. Vielleicht verschaffte ihr dieser Umstand die Kraft zum Überleben. Sie lebte bis 1616, heiratete zweimal und hatte selbst zwei Töchter.
    Sie wuchs unter Frauen auf, wie es damals üblich war. «Die weibliche Erziehung», schrieb Montaigne, «geht wunderliche, uns verschlossne Wege, die wir deshalb den Frauen selbst überlassen müssen.» Das klingt, als spreche hier jemand, der sich auf Zehenspitzen von einem Ort davonschleicht, wo er unerwünscht ist. Als er einmal Zeuge einer Szene wurde, die in seinen Augen Léonor eher schadete, mischte er sich nicht ein, um nicht ausgelacht und davongescheucht zu werden: Seine Tochter las einer Gouvernante einen Text aus einem Buch vor, in dem das Wort fouteau , «Buche», vorkam, das

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