Wie Tau Auf Meiner Haut
umzubringen.«
»Das hoffst du«, knurrte Harmony mit wachsender Beunruhigung.
»Wenn es aber klappen sollte, dann bin ich mir nicht sicher, ob ich all diese
Sachen mitnehmen kann oder ob ich nicht plötzlich splitternackt dastehen werde.
Wenn die Sachen nicht mitkommen, trage sie bitte wieder ins Dorf zurück und
mach damit, was du willst.«
»Klar doch. Ich wollte schon immer ein Samtkleid haben, das mir drei Größen zu
eng und dreißig Zentimeter zu kurz ist.«
»Den Laptop lasse ich auf jeden Fall hier. Ich habe meine Notizen von der
Festplatte gelöscht, aber mein Tagebuch ist noch da. Ich habe alles
aufgeschrieben. Falls mir etwas zustößt und ich nicht wieder hierher
zurückkomme...« Sie zuckte mit den Schultern. »Dann gibt es immerhin
Aufzeichnungen über alles, was vorgefallen ist.«
»Wie lange soll ich denn deiner Meinung nach warten? « schnaubte Harmony
wütend.
»Keine Ahnung. Das überlasse ich ganz dir.«
»Verflucht noch mal, Grace! « Harmony wandte sich ihr mit rot angelaufener,
zorniger Miene zu. Dann aber schüttelte sie nur den Kopf. »Ich kann dich
irgendwie gar nicht mehr erreichen, nicht wahr? Du bist mit dem Kopf bereits
ganz woanders.«
»Ich weiß, dass du es nicht verstehen kannst. Ich verstehe es ja selbst nicht.«
Der Wind presste das Kleid gegen ihren Körper und wehte ihr das Haar aus dem
Gesicht. Unter ihr dehnte sich das Tal aus, aber ihr Blick war in die Unendlichkeit
gerichtet. »Es ist jetzt ein Jahr her, seit Ford und Bryant ermordet wurden. Bis
heute habe ich keine Träne über ihren Tod vergießen können. Es scheint mir fast,
als ob ich es noch nicht verdient habe, weil ich noch nichts getan habe, um ihren
Tod zu rächen.«
»Zum Weinen hattest du einfach keine Zeit«, meinte Harmony mit rauer Stimme.
»Du warst viel zu sehr damit beschäftigt, überhaupt am Leben zu bleiben.«
»Ich habe noch niemals ihre Gräber besucht. Sechs Monate habe ich wieder in
Minneapolis gelebt, aber ihre Gräber habe ich nicht besucht und habe keine
Blumen darauf abgelegt.«
»Das war auch gut so, denn dieser verdammte Parrish hat sicher ein paar Leute
auf den Friedhof angesetzt. Da hätten sie dich mit Sicherheit schnappen
können.«
»Schon möglich. Aber ich hätte noch nicht einmal dann gehen können, wenn ich
mir um meine Sicherheit keine Sorgen hätte machen müssen. Vielleicht gelingt
es mir ja, wenn ich wieder zurückkomme.«
Mit diesen Worten war alles zwischen ihnen gesagt. Harmony umarmte sie. Ihre
grünen Augen waren feucht. Dann lief sie, ohne sich noch einmal umzudrehen,
davon.
Grace setzte sich auf den Felsen, klappte den Laptop auf und schaltete ihn an.
Sie öffnete ihr Tagebuch und versuchte, sich zu sammeln. Aber es war zwecklos,
ihre Gedanken schossen ihr wie Schwalben durch den Kopf. Schließlich hörte sie
auf, nachzudenken und fing zu schreiben an.
»17. Mai - Rache kann ein ganzes Leben ausfüllen. Das war mir bisher noch nicht
klar gewesen, aber bisher habe ich auch noch niemals gehasst. Ich war glücklich
und zufrieden, und einen Moment später hatte ich alles verloren. Von einem
Augenblick zum nächsten ist mein ehemals sicheres, normales, ja sogar ganz
und gar gewöhnliches Leben den Bach heruntergegangen. Ich habe alles
verloren. Meinen Mann, meinen Bruder... beide habe ich verloren.
Merkwürdig, wie schnell sich alles ändern kann. Wie sich ein ganz normales
Leben binnen einer Sekunde in Entsetzen, Unglauben und lähmenden Schmerz
verwandeln kann. Nein, ich habe nicht geweint. Ich habe den Schmerz in mir
eingemauert. Die Wunde aber kann nicht heilen, weil ich mich nicht traue,
meinen Schmerz herauszulassen. Ich muss mich auf das konzentrieren, was jetzt
getan werden muss. Ich kann mir jetzt nicht den Luxus der Trauer über die
leisten, die ich verloren habe. Wenn ich zusammenbreche, wenn meine
Wachsamkeit auch nur ein wenig nachlässt, dann wird man auch mich
umbringen.
Ich fühle mich, als ob mein Leben eigentlich jemand anderem gehört. Irgend
etwas ist gänzlich in Unordnung, aber was: das frühere oder mein jetziges
Leben? Es scheint mir, als ob die beiden Hälften sich nicht zusammenfügen
wollen, dass entweder die eine oder aber die andere gar nicht mein eigentliches
Leben ist. Manchmal kann ich überhaupt keine Verbindung zu der Frau
herstellen, die ich vor jener Nacht gewesen war.
Davor war ich eine Ehefrau.
Jetzt bin ich Witwe.
Ich hatte eine Familie, klein aber mein, und sie hat mir
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