Wie Tau Auf Meiner Haut
der
Taubheit gewöhnt, dass sie seine Abwesenheit bisher noch gar nicht bemerkt
hatte. Bis heute war jeder Tag des vergangenen Jahres voller Angst, Wut und
Hass gewesen. Zwischendurch war sie von einem solch heftigen Schmerz
durchdrungen gewesen, dass ihre Abgestumpftheit ihr sogar willkommen
gewesen war. Heute aber war sie aufgeregt und voller Neugier. Sie hatte Huwe
sogar wie verrückt angelächelt. Huwe! Ihr Lächeln war zwar ganz und gar falsch
gewesen, aber es war mehr, als sie jemals im vergangenen Jahr zuwege
gebracht hatte.
Sie war tatsächlich hier angekommen. Jeder Muskel schmerzte, aber sie war hier,
und der Schwarze Niall lag nur zwei Treppen von ihr entfernt. Beide waren sie
Gefangene. Vermutlich war er durch die Fausthiebe, wenn nicht sogar durch die
Schwerter der Gegner verletzt.
Dennoch elektrisierte sie seine Gegenwart bis in die Fingerspitzen.
Sie hörte ein leises Rascheln und blickte zu dem Tisch hinüber, über dem Huwe
mit dem Kopf auf seinem ausgestreckten Arm eingeschlafen war.
Auf Zehenspitzen ging sie zu ihm hin und räumte die Flasche etwas weiter weg.
Eine versehentliche Bewegung hätte sie zu Fall bringen und ihn möglicherweise
aufwecken können. Sie war allerdings überzeugt davon, dass selbst ein
Kanonendonner ihn heute Nacht kaum mehr wecken konnte, wollte jedoch kein
Risiko eingehen.
Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war, setzte sich also auf die Bettkante und
zwang sich zu warten. Das Bier würde bereits reichlich geflossen und die Männer
ohnehin vom Kampf ermüdet sein. Sie würden früh zu Bett gehen und in einen
tiefen Schlaf fallen.
Dennoch wartete sie noch, bis sie beinahe selbst eingeschlafen wäre. Als sie sich
das zweite Mal wieder hochgerissen hatte, wusste sie, dass sie nun gehen
musste.
Sie nahm ihre Tasche und ging leise zur Tür, öffnete sie einen Spalt und spähte
hinaus, ob der Wächter noch vor der Tür stand. Außer der Dunkelheit war nichts
zu sehen. Nur ein schwacher Schimmer drang von unten zu ihr hoch.
Sie schlüpfte aus dem Zimmer und ging vorsichtig die Treppe hinunter.
Schnarchende Männer lagen schlafend, in ihre Karodecken gehüllt, in der großen
Halle. Sie lief jedoch nicht auf Zehenspitzen, sondern nur leise, als ob sie ein
Recht darauf hätte, hier zu sein. Falls jemand aufwachte und sie bemerkte,
würde er sie für ein Serviermädchen halten. Wenn sie aber herumschlich, würde
das nur den Argwohn der Männer erregen. Das hatte ihr Harmony beigebracht:
»Laufe so, als ob du ein Recht hättest, den gesamten Gehweg zu beanspruchen.
Dann werden dich die bösen Kerle nicht anrühren.«
Ein großer eiserner Kerzenhalter stand mit halb abgebrannter Kerze auf einem
der Tische. Sie nahm sie mit, falls unten kein Licht sein sollte. Sie wollte nicht
ihre Taschenlampe benutzen und sie Niall erklären müssen, jedenfalls jetzt noch
nicht.
Die Treppe zu dem Verlies befand sich am hinteren Ende der großen Halle hinter
einer so schwarzen Tür versteckt, dass sie sie beinahe nicht bemerkt hätte. Sie
stellte sowohl ihre Tasche als auch die Kerze auf dem Boden ab, öffnete
zentimeterweise die Tür und achtete darauf, dass die Lederaufhängungen nicht
quietschten. Licht drang von unten herauf. Also war ein Wächter dort abgestellt,
denn ein Gefangener brauchte kein Licht.
Behutsam zwängte sie ihren Körper durch die Türöffnung, dann griff sie nach
Tasche und Kerzenständer. Die Kerze brauchte sie zwar nicht, wohl aber eine
Waffe. Sie blies die Kerze aus und benetzte den Docht mit Spucke. Dann nahm
sie die Kerze vom Stachel des Ständers und legte sie in ihre Tasche. Vorsichtig
setzte sie die Tasche auf der obersten Stufe ab, atmete mehrmals tief ein und
sagte ein stilles Gebet auf.
Die kalte und feuchte Wand des Verlieses im Rücken, schlich Grace die engen,
unebenen Stufen hinunter. Sie musste sich ihren Weg ertasten und hätte nun
doch gerne die Kerze gehabt, aber das Licht hätte den Wachposten alarmiert.
Der schwere Kerzenständer aus Eisen zog an ihrem Arm.
Auf halbem Wege nach unten konnte sie den Wachposten sehen, der auf einer
einfachen Bank mit dem Rücken an der Wand lehnte. Neben ihm stand ein
Lederkelch mit Wein. Wenn sie Glück hatte, dann hatte er sich bereits
besinnungslos getrunken. Aber selbst wenn er die Trinkfestigkeit eines Schotten
besaß, so würde der Alkohol doch seine Reflexe verlangsamt haben. Sie konnte
nur hoffen, dass er wirklich schlief, denn von ihrem Platz aus
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