Wie Tau Auf Meiner Haut
hätte sie ihn sonst
von Angesicht zu Angesicht angreifen müssen. Wenn der Mann aufstehen sollte,
würde sie ihn kaum bewusstlos schlagen können. Sie war von ihrer Zeitreise
noch so geschwächt, dass sie ihren Kräften nicht recht über den Weg traute. Es
wäre einfacher, wenn sie den Kerzenständer einfach mit Hilfe der Schwerkraft
auf ihn niedersausen ließ.
Grace schob tastend ihren Fuß vor. Die Luft war kalt und stank, und sie kräuselte
angeekelt ihre Nase.
Vordergründig roch es nach menschlichen Fäkalien. Darunter aber lag der
schärfere und unangenehmere Geruch von Blut und Angst und der säuerliche,
von Schmerzen durchdrungene Geruch von Schweiß. In diesen fauligen Tiefen,
die noch niemals die Sonne gesehen hatten, waren Männer gefoltert und
ermordet worden.
Jetzt hing es von ihr ab, dass der Schwarze Niall nicht ein ebensolches Schicksal
erlitt.
Ein bedrückender Gedanke stieg in ihr auf: War es ihre Schuld gewesen, dass er
überhaupt gefangen genommen worden war? Die Vernunft sagte ihr, dass das
albern sei, denn es war für den Schwarzen Niall nicht möglich gewesen, ihren in
Gedanken formulierten Ruf zu hören. Sie hätte unmöglich den Bruchteil einer
Sekunde Unachtsamkeit provozieren können, die zu seiner Festnahme geführt
hatte. Sie hatte ohnehin nicht gesehen, was wirklich geschehen war, also sollte
sie sich auch nichts vorwerfen. Aber andererseits war gerade ihre Gegenwart hier
Beweis genug, dass das Unmögliche sehr wohl möglich war. Sie konnte also nicht
mit Sicherheit sagen, dass Niall sie nicht hatte rufen hören.
Sie wusste nicht genau, wie viel Zeit ihr noch blieb. Huwe würde unter dem
Einfluss von sowohl Alkohol als auch Seconal bis spät in den nächsten Morgen
hinein schlafen. Hoffentlich hatte sie ihm angesichts seines hohen
Alkoholkonsums keine Überdosis verpasst. So grob und widerlich er auch war,
umbringen wollte sie ihn nicht. Dennoch war sie von ganzem Herzen dankbar,
dass sie die Medikamente mitgebracht hatte. Denn ohne das Seconal wäre sie
Huwe niemals entkommen und der Vergewaltigung erst recht nicht.
Ihr tastender Fuß fühlte keine Stufen mehr. Der Boden bestand nur aus
festgetretener Erde, er war uneben und gefährlich. Einen Augenblick lang stand
sie regungslos da und versuchte sich zu beruhigen. Der Wächter saß vornüber
gebeugt auf der Bank, der Kopf hing ihm auf die Brust. Schlief er wirklich, war er
betrunken, oder wollte er sie irreführen? Ob er trotz ihrer Vorsicht ein
verräterisches Geräusch gehört hatte und sie nun näher zu sich heranlocken
wollte?
Wie auch immer, sie hatte keine andere Wahl. Auch wenn seine Gefangennahme
nicht ihre Schuld sein sollte, so konnte sie den Schwarzen Niall unmöglich Huwe
überlassen, der ihn umbringen würde. Niall war der Hüter des Schatzes. Er war
der einzige lebende Mensch, der sowohl das Versteck des Schatzes als auch sein
Geheimnis kannte. Da sie den Schatz alleine nicht finden konnte, brauchte sie
seine Hilfe, um ihn dem Zugriff Parrishs entziehen zu können. Sie wollte Parrish E
gebieten, und sie wollte Parrishs Tod. Für beides jedoch war es unbedingt
notwendig, dass der Schwarze Niall am Leben blieb.
Sie musterte den Wachposten. Wenn er tatsächlich wach war und nur besonders
schlau sein wollte, dann ging sie am besten direkt auf ihn zu, als ob sie nichts zu
verbergen hätte. Genau wie Harmony es ihr beigebracht hatte. Wenn er sie erst
einmal sah, würde er von einer Frau keine Bedrohung erwarten. Ihr Herz schlug
heftig, und einen Augenblick lang hatte sie lauter schwarze Punkte vor den
Augen. Panik zog ihr den Magen zusammen, und sie befürchtete, sich übergeben
zu müssen. Verzweifelt atmete sie durch und kämpfte gegen Ekel und Schwäche.
Nach all dem, was sie durchgemacht hatte, durfte sie jetzt keinen Rückzieher
machen.
Kalter Schweiß brach ihr aus und rann ihren Rücken hinunter. Grace zwang sich
mit leichten, bemessenen Schritten über den rauen Boden zu laufen, als ob sie
überhaupt nichts zu verbergen hätte. Das Licht der Fackel schwankte, als würde
es zu einer unhörbaren Melodie tanzen. Es warf riesige, wabernde Schatten an
die feuchten Steinwände. Der Wachposten blieb reglos sitzen. Drei Meter.
Anderthalb Meter. Schließlich stand sie so nah vor ihm, dass sie den säuerlich
scharfen Geruch seines ungewaschenen Körpers riechen konnte. Grace schluckte
und wappnete sich für den Schlag, den sie gleich austeilen musste. Sie
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