Wie Tau Auf Meiner Haut
aber er war fast zwanzig Zentimeter über dem, was ihre
Finger erreichen konnten. Sie kletterte noch eine Stufe höher, balancierte auf
dem Rand der Stufe und versuchte, sich so weit wie möglich nach oben zu
strecken. Fast hätte sie das Gleichgewicht verloren. Schnell presste sie sich vor
Angst keuchend gegen die Wand. Wenn sie diese Stufen hinunterfiel, würde sie
sich das Genick brechen. Behutsam stellte sie sich erneut ganz am Rand der
Stufen auf die Zehenspitzen.
Sie streckte die Hand aus, konnte den Rand des Steins aber immer noch nicht
erreichen.
Fluchend setzte sie sich auf die Stufen und zog ihren linken Schuh aus. Wieder
stellte sie sich auf die Zehenspitzen, streckte sich und hieb mit dem Schuh gegen
den flachen Stein.
Lautlos glitt das Rechteck nach innen, und ein schwarzes Loch tat sich in der
Wand auf.
Sie hielt die Kerze hoch und lehnte sich durch das Loch. Sie wollte keinen Fuß
dort hineinsetzen, bevor sie nicht wusste, was sie erwartete.
Die Dunkelheit war übermächtig und schien das wenige Licht der Kerze fast zu
verschlucken. Sie konnte den Steinboden erkennen, sonst gar nichts, nicht
einmal Wände.
Sie drängte sich durch die Steintür und wartete einen Augenblick, bereit
zurückzuspringen, falls diese sich automatisch schließen sollte. Aber sie blieb
offen. Vermutlich war ein zusätzlicher Mechanismus auf der anderen Seite
angebracht, den man zum Schließen der Tür betätigen musste. Das aber hatte
sie nicht vor.
Bedachtsam machte sie ein paar Schritte vorwärts und stieß nach drei oder vier
Metern auf eine Wand. Sie ging nach links und musterte einen dunklen Flecken.
Beim Herantreten bemerkte sie, dass es sich um eine weitere Tür handelte. Diese
hier war aus sehr dunklem Holz gefertigt. Der Riegel davor war so befestigt, dass
man ihn zwar am einen Ende zum Öffnen der Tür herausziehen, ihn aber nicht
abnehmen konnte.
Eine plötzliche Brise ließ ihre Kerze flackern, und sie legte schützend ihre Hand
darum, damit sie nicht ausging. Sie blickte über ihre Schulter auf die Öffnung in
der Wand, aber der Wind kam offenbar nicht von dort.
Eigenartigerweise kam er von der großen, verschlossenen Tür.
Grace ging auf die Tür zu und versuchte, den Riegel anzuheben, aber obwohl er
vergleichsweise klein war, gelang es ihr nicht, ihn mit nur einer Hand hoch zu
drücken. Sie stellte die Kerze auf dem Boden ab und drückte mit beiden Händen
gegen die Sperre. Sie stellte sich darunter und benutzte ihren ganzen Körper, um
das Holz Stückchen für Stückchen nach oben zu pressen. Ein erstaunliches Maß
an Kraft war für diesen vergleichsweise schlanken Riegel erforderlich. Sie hörte
ein mechanisches Klicken, als das Holz oben angekommen war.
Die Tür öffnete sich lautlos. Weitere Treppen taten sich zu ihren Füßen auf, an
der einen Seite sah sie eine Felswand, an der anderen nur ein schwarzes Nichts.
Die Brise war jetzt deutlicher zu spüren, die Kerze flackerte und war kurz davor
zu erlöschen. Grace kauerte sich auf den Boden und hielt die Hände schützend
um die Flamme, bis sich diese wieder beruhigt hatte. Dann hob sie sie, immer
noch mit einer Hand schützend, hoch.
Wie viel Zeit war wohl vergangen? Sie ging die Treppe in das gähnende Nichts
hinunter. War die Schlacht bereits zu Ende? War Niall unverletzt daraus
hervorgegangen? Sie spürte einen inneren Drang, die Stufen wieder
hinaufzurennen und hielt mit ihrem Fuß mitten in der Luft inne. Niall, dachte sie
voller Verzweiflung und Angst. Er war ein gefürchteter Krieger. Sie hatte ihn in
der Schlacht und im Nahkampf beobachtet und verstand sehr gut, warum er bei
seinen Gegnern so gefürchtet war. Aber er war trotz allem doch einfach nur ein
Mensch. Er blutete, wenn er sich schnitt, er bekam blaue Flecken, wenn er
geschlagen wurde. Er konnte besiegt werden, so wie es damals geschehen war,
als Huwes Männer ihn gefangen genommen hatten.
Sie aber konnte gar nichts tun, um den Ausgang der Schlacht über ihrem Kopf zu
beeinflussen. Wenn sie aber den Schatz finden konnte, dann würde sie den
Dokumenten zufolge - für die Parrish so willens war zu morden - den Ausgang
der Dinge in ihrer eigenen Zeit beeinflussen können. Ihre Wahl war einfach und
doch schwieriger, als sie es sich jemals hätte vorstellen können. Sie war erst seit
einer Woche in dieser Zeit. Wie hatte Niall so schnell so wichtig für sie werden
können?
Weil sie ihn schon viel, viel länger als nur sieben Tage
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