Wie Tau Auf Meiner Haut
mit Löwen verziert. Eine verwitterte Fahne hing über der Stuhllehne, aus der
im Kerzenlicht die goldenen Augen der Löwen funkelten. Neben dem Thron war
noch etwas, etwas, das sie nicht so richtig erkennen konnte. Sie trat noch einen
Schritt vor.
»Ach, Mädchen.« Die tiefe Stimme direkt hinter ihrem Rücken klang bedauernd.
»Ich wollte dich nicht umbringen.«
Ihr Herzschlag stolperte, und sie schwankte, als ihr das Blut aus dem Kopf wich.
Blut. Jetzt konnte sie den warmen, metallischen Geruch riechen. Das Blut des
Kampfes klebte an ihm, seine Wildheit raste durch seinen Körper. Sie spürte die
Wut, die stoßweise von ihm abstrahlte.
Er würde sie umbringen. Sie spürte seine Absicht, den kalten Entschluss, mit
dem er all die Jahre über den Schatz behütet hatte. Darunter jedoch verbarg sich
eine kaum im Zaum gehaltene Wut gegen... ja, wogegen eigentlich? Ihren
Verrat? Dass sie ihrem Ziel so nahe gekommen war? Es war die Wut, die sie am
deutlichsten spürte. Sie war wie ein Feuer, das unter dem Eis brannte, und die
wiederum ihre eigene Wut auslöste.
Sie durfte nicht zulassen, dass er sie umbrachte. Wenn sie jetzt starb, dann
hatte Parrish gewonnen. Sie hätte weder Ford noch Bryant gerächt, ihr Todesmut
wäre vergeblich gewesen. Sie würde in dem Bewusstsein sterben, die beiden im
Stich gelassen zu haben. Das wiederum war ihr das Allerunerträglichste
überhaupt.
Nialls Hand legte sich auf ihre Schultern und drehte sie zu sich um. Sein Griff war
wie aus Eisen. Grace ließ die Kerze fallen, die etwas beiseite rollte. Ihr weniges
Licht beleuchtete sein glitzerndes Schwert, dann wäre sie beinahe ausgegangen,
ehe sie doch wieder aufloderte. Grace drehte sich in seinem Griff und kam näher
an ihn heran. Aber als der Krieger hatte er bereits zu reagieren begonnen, noch
ehe sie die Bewegung fertig ausgeführt hatte. Er drehte seine Hüfte zur Seite und
federte damit ihren Kniestoß ab. Es war aber nicht das Knie, das sie benutzte,
sondern ihr Ellenbogen. Sie zielte auf seine Magengegend und schlug zu. Seine
Muskeln waren so fest, dass ihr der Arm bis zur Schulter hoch weh tat. Sie hatte
zwar ihr Ziel verfehlt, aber der Stoß war zumindest heftig genug, dass er sich
stöhnend ein bisschen nach vorn beugte und für den Bruchteil einer Sekunde
seinen Griff um ihre Schulter lockerte.
Das genügte. Sie riss sich nach hinten los. Seine Finger krallten sich in den Stoff
ihres Unterkleides, dann hörte man fast überlaut das Reißen einer Naht. Durch
das überraschende Nachgeben stolperte sie und wäre beinahe auf die Knie
gefallen, rappelte sich jedoch von Panik getrieben wieder auf. Sie hob ihre Röcke
an und rannte aus dem Kerzenschein hinaus in die Dunkelheit und instinktiv auf
die Treppe zu.
Ihre Chance, zu entkommen, war gering. Und aus der Burg zu entfliehen war
ebenso aussichtslos. Dennoch musste sie es versuchen. Ihre Schuhe rutschten
auf den Steinen aus, und sie prallte heftig gegen die Wand. Hinter ihr war der
Kerzenschein nur noch ganz schwach zu erkennen und bot ihr keine Hilfe mehr.
Jetzt aber hatte sie die Wand, an die sie sich halten konnte. Sie legte eine Hand
darauf und lief los.
Sie stolperte über die unterste Stufe und fiel hin. Sofort war sie wieder auf den
Beinen. Sie wusste, dass er ihr unmittelbar auf den Fersen war, sie spürte
geradezu seine Anwesenheit, obwohl sie ihn weder sehen noch hören konnte. Er
war ganz nah, er hatte das Furcht erregende, blutverschmierte Schwert in der
Hand, und er war rasend vor Wut.
Grace hetzte in der tintigen Dunkelheit die Stufen hoch. Wenn sie auch nur eine
Stufe verpasste, würde sie ins Nichts fallen und schwer verletzt oder auch gleich
tot sein. Wenn sie jedoch nicht flüchtete, war ihr der sichere Tod gewiss. Er lag
in jedem seiner Schritte. Sie konnte jetzt nur weiter rennen und hoffen, dass sie
ihm genau den einen Schritt voraus sein würde, den sie brauchte, um den
Treppenabsatz zu erreichen und die Tür vor seiner Nase zuzuschlagen.
Nur ein Schritt. Sie hatte den Riegel zwar kaum bewegen können, aber sie würde
es irgendwie schaffen. Wenn sie den Riegel überhaupt in die richtige Stellung
bekommen könnte, dann würde sie es schaffen. Niall konnte sich irgendwie durch
die Tür hacken, aber das würde ihn Zeit kosten. Genau die Zeit, die sie brauchte,
um aus der Burg zu entkommen. Nur ein Schritt.
Aber sie konnte nicht fliehen, nicht jetzt, wo sie ihrem Ziel so nahe war. Sie
würde sich
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