Wie Tyler Wilkie mein Leben auf den Kopf stellt und was ich dagegen tun werde: Roman (German Edition)
musste, seine ganze Kindheit an einem einzigen Ort zu verbringen. Das Zuhause meiner Kindheit existierte nicht mehr, es sei denn, ich rechnete das Loft meines Vaters dazu. Doch dort hatte ich mich nie besonders wohl gefühlt. Und meine alten Sachen – meine Jahrbücher, meine Kassetten, meine Beanie-Babie-Sammlung – wer weiß, wo das alles geblieben war?
»Was hast du denn?«, fragte Ty.
»Schön, dein Zimmer.«
»Ich wohne schon seit zehn Jahren nicht mehr hier.«
»Trotzdem ist es dein Zimmer.«
Er wies mit dem Kinn auf den Monet-Druck. »Ich glaube, jetzt ist es deines. Sieht so aus, als hätte meine Mutter es für dich aufgemöbelt.«
»Wo hast du gewohnt, nachdem du ausgezogen bist?«
»Das erste Jahr im Poolhaus von Bogues Eltern, dann in der Stadt, in verschiedenen Wohnungen. Komm, wir holen uns ein Bier.«
Im Flur stießen wir auf Tys Eltern, die gerade aus dem Schlafzimmer kamen.
»Grace Barnum!«, rief Jean aus. Ihre Wangen waren gerötet, und sie band gerade ihre blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Als sie mich umarmte, sah ich, dass ein Knopf an ihrer Bluse fehlte. Nathan nickte mir zu und schüttelte Ty die Hand. Sowohl er als auch seine Frau hatten rote Augen und rochen nach Pot. Was den seltsamen Geruch im Haus erklärte.
»Wir sind gerade angekommen und haben Durst«, sagte Ty.
»Ach, ihr Armen!«, antwortete Jean. »Im Kühlschrank ist Bier und etwas zu essen. Bedient euch. Abendessen gibt es so gegen sieben.«
Ich warf Ty einen Seitenblick zu, der mir zuzwinkerte und flüsterte: »Deswegen habe ich gepfiffen. Um sie nicht dabei zu überraschen, wie sie sich splitterfasernackt über den Flur jagen.«
Wir holten uns Bier und Chips und gingen hinunter in das muffige Untergeschoss, das nach einem ehemaligen Partykeller aussah, mit uraltem Fernseher, einem Kicker, einer braunkarierten Couch und einem roten Sitzsack.
Ty ließ sich auf die Couch fallen und riss die Chipstüte auf, während ich die gerahmten Fotos von ihm betrachtete, die ringsum an den Wänden hingen. Er war bei verschiedenen Sportarten zu sehen: Baseball, Football, Querfeldeinlauf.
»Du warst echt sportlich, oder?«
Er zuckte mit den Schultern. »Gesundes Mittelmaß. Meine Schwester ist die sportlichere von uns beiden. Im Basketball war sie unschlagbar.«
Ein Foto zeigte sie mitten im Sprung kurz vor einem Korbleger. Sie glich einer kämpferischen Wikingergöttin, durchtrainiert und muskulös. »Wie heißt sie?«
»Rebecca.«
»Wer von euch ist älter?«
»Ich. Um zwei Minuten. Aber sie war größer und lauter. Es heißt, sie hätte mich praktisch rausgeschubst.«
Hm, eine Zwillingsschwester also. Wer hätte das gedacht? Mein Blick fiel auf ein Bild von Ty im Gewand eines chassidischen Juden und mit einem großen, künstlichen grauen Bart. Er hatte die Arme in die Luft gereckt und den Mund geöffnet.
» Anatevka ?«
»Ja.«
»Du warst Tevje?«
»Ja.« Er wirkte verlegen. »Ich habe die Rolle nur bekommen, weil ich in der Abschlussklasse war und singen konnte. Als Schauspieler war ich lausig.«
»Das kommt garantiert in die Medien, wenn du erst richtig berühmt bist.«
»Nicht, wenn ich vorher alle Beweise vernichte.«
»Dann musst du aber viele Jahrbücher verbrennen.«
Er steckte sich einen Chip in den Mund. »Um die Videos auf YouTube mache ich mir größere Sorgen.«
Aufgeregt klatschte ich in die Hände. »Ich weiß schon, was ich als Erstes tue, wenn ich nach Hause komme!«
Ich trat ein paar Mal gegen den Sitzsack, um ihn aufzubauschen, bevor ich mich hineinsinken ließ. Es war gut zehn Jahre her, seitdem ich in so einem Ding gesessen hatte. »Okay, hier kriegt mich so schnell niemand mehr raus.«
Ich schwieg. Als ich ein Auge öffnete, las Ty die Rückseite der Chipstüte.
»Kommt Rebecca zur Feier?«, fragte ich.
»Ja. Sie hat meiner Mutter zwar gesagt, sie würde nicht kommen, weil sie Familientreffen scheiße findet. Aber ich habe sie mit etwas umgekehrter Psychologie bearbeitet.«
»Aha. Was hast du getan?«
»Ganz einfach. Zuerst habe ich sie angerufen und ihr eine geheimnisvolle Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, dass ich mit ihr über etwas reden müsse.«
»Ach so.«
»Und wie meine Schwester so ist, hat sie umgehend zurückgerufen. Aber ich bin nicht drangegangen und habe gewartet, bis sie eine Nachricht hinterlassen hat. Dann habe ich sie ein, zwei Tage schmoren lassen, bis ich mich gemeldet habe, um das Ganze noch geheimnisvoller zu
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