Wie Tyler Wilkie mein Leben auf den Kopf stellt und was ich dagegen tun werde: Roman (German Edition)
auf dem Hügel im Fort Tryon Park schien ihn gebührend zu beeindrucken. Als Eintritt zu den Kreuzgängen zahlte man, was man erübrigen konnte. Ich gab die empfohlenen zwanzig Dollar und sah, wie Tyler fünf bezahlte, die er sich wahrscheinlich gar nicht leisten konnte.
Während wir die vielen Stufen der Eingangstreppe hinaufstiegen, verspürte ich eine freudige Nervosität. Normalerweise kam ich allein hierher, aber wenn ich schon mal einen Begleiter hatte, konnte ich ihm auch gleich einige Dinge zeigen, die mir besonders am Herzen lagen.
Ich führte ihn sofort zu den Einhornjagd-Tapisserien, sieben großen, kunstvoll gewebten Wandteppichen, die wahrscheinlich einst ein feudales mittelalterliches Schlafgemach geschmückt hatten. Ich nahm mir Zeit, Tyler ein Bild nach dem anderen zu zeigen, die die Geschichte von der Gefangennahme und der Tötung des mythischen Einhorns erzählten.
Eingehend betrachtete er den letzten Teppich. Das wundervolle Geschöpf ist in einen runden Pferch unter einem Granatapfelbaum eingesperrt, umgeben von einer üppigen Vielfalt bunter Blumen und Pflanzen.
»Das ist mein Lieblingsstück«, sagte ich. »Das Einhorn wird nicht getötet. Es könnte ein alternatives Ende der Geschichte sein. Obwohl dieses Werk den anderen ähnelt, glauben manche Fachleute nicht, dass es ursprünglich zu der Serie gehört hat.«
»Das Einhorn sieht ganz friedlich aus.«
»Angeblich soll es einen erfolgreich umgarnten Bräutigam darstellen. Siehst du, dass es an den Baum gekettet ist? Das ist die Liebeskette.«
Tyler sah näher hin. »Sind das Blutstropfen in seinem Fell?«
»Nein, das ist Granatapfelsaft. Siehst du die aufgeplatzte reife Frucht über ihm? Möglicherweise bedeuten die Tropfen Fruchtbarkeit.«
»Toll!« Er grinste.
Ihm gefielen besonders die typisch männlichen Ausstellungsstücke, allen voran die Grabsteinplastik des jungen Ritters, der von seinem Schwert und seinem Schild bedeckt wird. Doch er verharrte auch lange schweigend vor dem rührenden, bekümmerten Gesicht der trauernden Mutter mit dem toten Christus in den Armen in der kleinen böhmischen Pietà. Er erwies sich als äußerst angenehmer Museumsbegleiter.
Wir gingen hinaus in den Bonnefort-Kreuzgang und setzten uns auf eine Bank am Kräutergarten, der um diese Jahreszeit brachlag. Der taubengraue Himmel hing tief.
»Du solltest den Park mal im Sommer sehen«, sagte ich.
»Meine Eltern haben einen Garten«, erzählte er. »Einen großen, hinter unserem Haus.«
»Was pflanzen sie an?«
»Gemüse, Blumen. Jedes Frühjahr sind sie draußen, hacken und pflanzen.«
Ich war beeindruckt. »Leben sie auf dem Land?«
»Bei uns ist praktisch überall ›auf dem Land‹.«
»Das muss schön sein«, sinnierte ich. »Zusammen im Garten zu arbeiten.«
»Bei ihnen scheint es zu funktionieren, sie sind seit dreißig Jahren verheiratet.«
»Wow, das ist eine Leistung. Meine Eltern haben sich getrennt, als ich vier war.«
Er sah mich an. »Und bei wem bist du aufgewachsen?«
»Bei meiner Mutter. Als Kind habe ich meinen Vater kaum gesehen, erst als ich älter wurde, ist es besser geworden.«
»Warum?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Er ist Künstler und hat wohl alles andere seinem Beruf untergeordnet.«
»Ein Künstler? Was, ein Maler oder so?«
Ich nickte. »In der Kunstszene ist er ziemlich bekannt. Dan Barnum, sagt dir der Name was?« Ich rechnete nicht damit, dass er von meinem Vater gehört hatte. »Die Käsekuchen-Serie?«
Er sah mich verständnislos an.
»Du weißt schon, die Bilder mit den Präsidenten, die Nachspeisen essen? Das von Reagan, auf dem ihm Erdbeersauce über das Kinn läuft?«
»Ach so!«
Ich sah ihm an, dass er keine Ahnung hatte, wovon ich redete.
»Und wo hast du mit deiner Mom gewohnt?«, fragte er.
»In einer winzigen Wohnung in Queens, in der Nähe der Steinway-Klavierfabrik.«
»Eine Klavierfabrik. Cool.«
»Stimmt. Cool. Meine Mutter hatte keine Ausbildung. Sie hat gekellnert und das College abgeschlossen. Danach hat sie Jura studiert.«
»Ist sie Anwältin?«
»Staatsanwältin.«
»Wo?«
»In New Jersey.«
»Also besuchst du sie manchmal?«
»Wir sehen uns regelmäßig.«
»Und was ist mit deinem Vater?«
»Hin und wieder treffen wir uns.«
»Wenigstens hat er Kontakt zu dir gehalten.« Tyler stieß mich mit dem Ellbogen an und lächelte.
»Ja, stimmt schon.« Ich blickte hinauf zum Himmel. »Es sieht nach Schnee aus.«
Schweigend blickten wir nach oben. Tyler begann, mit zwei
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