Wie viel ist genug?: Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens. (German Edition)
CandyMountain«, so der Titel eines beliebten Schlagers aus den 1920er-Jahren, ist eine Welt, in der Hühner weichgekochte Eier legen, Alkohol über die Felsen fließt und »man den Deppen hängt, der die Arbeit erfand«.
In ihrer Protzerei und Naivität sind diese folkloristischen Utopien ein Ausdruck der ewigen Sehnsucht der Menschen nach Müßiggang und Bequemlichkeit. Deutlich weniger gewinnend sind die von den Philosophen entworfenen staatsbürgerlichen Utopien, in denen die Gelüste der Menschen einer rationalen Regierung unterworfen und nicht einfach so mir nichts, dir nichts befriedigt werden. Der Prototyp dieser Art der Utopie ist natürlich Platons
Politeia,
eine vollkommene Stadt, regiert von einer aufgeklärten Elite von »Wächtern«, die alles untereinander teilen, Frauen eingeschlossen, mit denen sie sich auf Geheiß des Staates regelmäßig fortpflanzen. Gleichermaßen grimmig ist die Welt, die Thomas Morus 1516 in seinem für das Genre namensgebenden Buch
Utopia
entwarf und in der nicht nur die Herrscher, sondern alle Klassen alles Eigentum gemeinsam besitzen. Kurze Arbeitszeiten – Morus’ Utopier arbeiten nur sechs Stunden am Tag – werden nicht durch technologischen Fortschritt erreicht, sondern durch die strikte Zügelung des Verlangens, was »unter den kleineren Vergnügungen des Lebens schwere Opfer fordert«.[ 3 ] Alkohol ist verboten, und alle Bürger tragen dieselben schlichten Gewänder. Freie Zeit wird nicht mit dem Konsum irgendwelcher Dinge verbracht (von denen es ja ohnehin nicht allzu viele gibt), sondern mit »freudigem Lernen, Debattieren, Lesen, Rezitieren, Schreiben, Spazierengehen, mit Übungen zur Ertüchtigung des Geistes und des Körpers und mit Spielen«.[ 4 ] (Derselbe Mangel an Konsumgütern förderte in der ehemaligen Sowjetunion die Beschäftigung mit dem Schachspiel als Freizeitvergnügen.) Zudem findet sich bei Morus mehr als nur eine Anspielung auf einen Big Brother. »Die allgegenwärtigen Augen aller nötigen zur gewohnten Arbeit oder zu einer Freizeit ohne Unehre.« Die Frauen sind den Männern untertan, auf wiederholten Ehebruch steht die Todesstrafe.[ 5 ]
All diese vormodernen utopischen Welten haben eine Eigenschaft gemeinsam: Sie stehen außerhalb der Geschichte. Entweder liegen sie ineiner mythischen, dem Menschen niemals wieder zugänglichen Vergangenheit (Eden, das Goldene Zeitalter), oder sie haben keinerlei zeitliche Verortung. Platons
Politeia
ist eine reine Idee, die über der empirischen Welt schwebt. Morus’ Utopia ist, wie sein griechischer Name impliziert, ein
ou-topia,
ein »Nicht-Ort«. Weder Platon noch Morus hatten irgend eine Vorstellung davon, wie ihre ideale Welt verwirklicht werden könnte, abgesehen vielleicht durch die ihnen innewohnende Überzeugungskraft. (Platon sprach voller Hoffnung von Philosophen, die zu Königen werden, allerdings ist nicht klar, ob er das wirklich ernst meinte.) Das Problem ist also, dass die Geschichte, so wie sie damals wahrgenommen wurde, keinen Ansatzpunkt, keinen Eintrittspunkt für ein Utopia bot. Die Geschichte verkörperte keine progressive Dynamik, nur eine zyklische Oszillation von Geburt, Aufblühen, Reife und Zerfall, entsprechend dem Gang der Jahreszeiten. Auf Phasen der Stärke und Expansion folgten Phasen des Luxus und der Dekadenz und so weiter in einer endlosen Abfolge. Niccolò Machiavelli brachte die klassische Sichtweise in seiner Geschichte von Florenz treffend auf den Punkt: »[…] Kraft erzeugt Ruhe, Ruhe Trägheit, Trägheit Unordnung, Unordnung Zerrüttung, wie hinwieder aus der Zerrüttung Ordnung entsteht, aus der Ordnung Kraft, aus der Kraft Ruhm und Glück.«[ 6 ] Diese Sichtweise ist über viele Jahrhunderte hinweg lebendig geblieben. So behauptete Papst Leo XIII. noch 1891, dass »sich die gleichen Erscheinungen bei allem Wechsel der Zeiten und der Völker oft mit wunderbarer Ähnlichkeit [wiederholen]«.[ 7 ] Und aus dem 20. Jahrhundert kennen wir die großen zyklischen Visionen Spenglers, Toynbees und Sorokins.
Die jüdischen Propheten, und unter ihnen insbesondere Jesaja, waren die ersten, die eine alternative Sichtweise der Geschichte anboten, und zwar als die eines Kampfes zwischen Gut und Böse, der im Sieg des Guten kulminiert. Die prophetische Geschichte ist zielgerichtet, nicht zyklisch, ethisch, nicht tragisch. Anstelle von Machiavellis ewigem Auf und Ab hat sie den Blick nach vorne, auf einen Punkt der Vollendung gerichtet, auf eine Zeit, in der »der Wolf beim Lamm
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