Wie viel ist genug?: Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens. (German Edition)
Großen heraufzubeschwören, wie er das bei Marlowe tut, nutzt Faust Zauberkräfte, um den Hof mit Geld zu überfluten, mit dem verschwenderische Maskenbälle finanziert werden. Goethes Moral ist unverkennbar: Geld ist nur ein Mittel zu Schaffung von Kultur. Das Stück endet damit, dass der gealterte Faust zum Herrn eines kaiserlichen Lehens eingesetzt wird, der in seiner Tatkraft mit dem Bau von Deichen und Kanälen das Meer zurückdrängen will. Der Fortschritt dieses Projekt aber verlangt die Vertreibung (von Mephistopheles in eine Mordtat verwandelt) eines eigensinnigen alten Bauernpaares, Philemon und Baucis, die sich weigern, ihrkleines Stückchen Land aufzugeben – eine unverkennbare Anspielung auf die Einhegungsbewegung des 18. Jahrhunderts, bei der Bauern vom Gemeindeland vertrieben wurden. Angesichts der Vorstellung, sein Projekt ohne weitere Hilfe der Magie vollbringen zu können, ruft Faust aus: »Zum Augenblicke dürft’ ich sagen: / Verweile doch, du bist so schön / Es kann die Spur von meinen Erdetagen / Nicht in Äonen untergehn. / Im Vorgefühl von solchem hohen Glück / Genieß’ ich jetzt den höchsten Augenblick.«[ 23 ]
Im Augenblick, da Faust die fatalen Worte »Genieß’ ich jetzt den höchsten Augenblick« ausspricht, sinkt er tot zu Boden, so, wie er es geschworen hatte, sollte er je Zufriedenheit mit der Welt bekunden. Das nun hätte der »Endzustand« sein sollen, die Erschaffung eines irdischen Paradieses, das der späte Faust sich zur Aufgabe gemacht hatte. Doch Goethe umgeht diese Schlussfolgerung, in dem er Fausts Ausdruck der Zufriedenheit in die Bedingungsform setzt: Der Teufel kann die Menschheit nur bis zu einem bestimmten Punkt voranbringen; Vollkommenheit bleibt dem Himmel vorbehalten. Und so teilt er die Beute auf zwischen Mephistopheles und Gott: Der Teufel bekommt Fausts Körper, aber Gott seine Seele, schließlich hat Faust sich immer strebend bemüht.
Goethe selbst bezeichnete den Faust später als »wirklich zu toll«[ 24 ] und versuchte nie zu erklären, was er bedeuten sollte. Wie alle große Dichtkunst ist er sowohl präzise wie unfassbar. Philosophisch gesehen ist sein wichtigstes Vermächtnis die Dialektik – die Vorstellung, dass jeglicher Fortschritt von einer kontinuierlichen »Verneinung« oder Überwindung der traditionellen Moral abhängt. Dieser Gedanke, der von Goethe zu Hegel und von diesem weiter zu Marx gelangen sollte, hat sich als schicksalhaftes Vermächtnis für das moderne Denken erwiesen.
Heutzutage sind wir weniger geneigt, Schlechtigkeit im Interesse des Fortschritts gutzuheißen. Goethes Flirt mit Mephistopheles erscheint uns von geradezu hoffnungsloser Unschuldigkeit, Ausschweifung eines Zeitalters, das die Realität des Bösen vergessen hatte. »Wir haben Situationen kennengelernt«, schrieb der deutsche Philosoph Karl Jaspers1948, »in denen wir keine Neigung mehr hatten, Goethe zu lesen, in denen wir zu Shakespeare, der Bibel, Äschylus griffen, wenn wir überhaupt noch lesen konnten.«[ 25 ] Goethe glaubte nicht an die Perfektionierbarkeit des Menschen, aber ebenso wenig glaubte er an die Erbsünde. Mehr noch, seiner Meinung nach hatte Europa auf Dauer das Zeitalter der Grausamkeit überwunden. Andernfalls hätte er Mephistopheles unmöglich als einen solch liebenswürdigen Dämon zeichnen können. In unserem Zeitalter können wir Goethes Faust moralisch einfach nicht mehr ernst nehmen. Eben das war auch die Implikation von Thomas Manns Roman
Doktor Faustus
von 1947, in dem Mann zum einen bewusst zu Marlowes Originaltitel zurückkehrt und er zum anderen die Faust-Figur im Wahnsinn enden lässt – der säkularen Variante der Verdammnis.
D IE AUSGEBLIEBENE A POKALYPSE DES K ARL M ARX
Karl Marx verehrte Goethe, und in seinem Werk benutzte er immer wieder die Figur des Mephistopheles, um den Schleier zu lüften, den die Ökonomen seit Adam Smith um den dem Kapitalismus inhärenten faustischen Handel gelegt hatten. Er präsentierte den Kapitalismus in seinen echten, Mandeville’schen Farben, gierig und unersättlich. Aber er ergänzte dies um etwas, das wir bei Mandeville nicht finden: die Überzeugung, dass die Menschen die Kosten des Kapitalismus keineswegs freiwillig im Interesse ihres eigenen Nutzens oder des ihrer Familien auf sich nehmen, sondern dass sie ihnen durch die Macht der kapitalis tischen Klasse aufgezwungen werden. Nur mit Gewalt konnte diese Macht zerschlagen, auf Erden das Königreich der Rechtschaffenheit errichtet
Weitere Kostenlose Bücher