Wie viel ist genug?: Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens. (German Edition)
Sommerhitze noch Winterfrost hält [dich] von der Jagd nach Gewinn zurück«, rief Horaz dem Gierhals ins Gesicht, »Feuer, Meer, Schwert – nichts steht dir im Wege, wenn nur nicht irgendjemand reicher ist als du.«[ 9 ] Während die römischen Philosophen aller Schulen die
parsimonia,
die Genügsamkeit, priesen, wurden die weniger philosophisch Geneigten durch Gesetze gegen übertriebenen Luxus in Schach gehalten. Das vorherrschende Modell war diätetisch: So, wie wir uns beibringen müssen, mit dem Essen aufzuhören, wenn wir satt sind, so müssen wir, individuell und kollektiv, lernen, mit der Akkumulation von Reichtum aufzuhören, wenn wir genug haben.
Was würden Aristoteles und die anderen antiken Philosophen zu unserer heutigen Misslage sagen? Gelegentliche Fälle von Habgier und Extravaganz würden sie kaum überraschen; die Antike hatte nicht nur einen Midas oder Krösus. Dasselbe gilt für die in Kapitel 1 skizzierte Dynamik der Begierdenerzeugung; Ähnliches gab es auch damals, wenn auch in viel kleinerem Umfang. Was sie dagegen über alle Maßen erstaunen würde, wäre die Tatsache, dass wir dergleichen Dinge nicht als schändliche Abweichungen betrachten, sondern als einen normalen und unerlässlichen Bestandteil der gesellschaftlichen Mechanismen, ja sogar als Zeichen der Lebenskraft. Aristoteles kannte Unersättlichkeit nur als individuelles Laster; von der kollektiven, politisch organisierten Unersättlichkeit, die wir Wachstum nennen, hatte er nicht die geringste Vorstellung. Die Zivilisation des
toujours plus,
des »Immer mehr«, wie der französische Philosoph Bertrand de Jouvenel dazu sagte, würde ihm als moralischer und politischer Wahnsinn erscheinen.
Ö KONOMISCHE E INSTELLUNGEN IN E UROPA UND A SIEN
Aristoteles wird oft und nicht ganz zu Unrecht als Ideologe einer sklavenhaltenden Oligarchie abgetan. Seine Vorstellung von einem guten Lebenist sehr stark eine seines Ortes und seiner Zeit. Sie lässt keinen Raum für die Freuden der Natur, der Einsamkeit, der künstlerischen Schöpfung oder der religiösen Ekstase, für all die Dinge, die wertzuschätzen das Christentum und die Romantik uns gelehrt haben. Und natürlich ist das gute Leben dem griechischen Mann und Bürger vorbehalten; Frauen, Barbaren und Sklaven sind davon ausgeschlossen. Wie kann diese Apologie der attischen Gesellschaftsordnung im 4. Jahrhundert vor Christus für uns heute noch von Interesse sein?
Derlei Vorwürfe gegen Aristoteles sind ja schön und gut, aber sie treffen nicht das, was am Tiefsten und Dauerhaftesten in seinem Denken ist. Aristoteles’ Vorstellung von einem guten Leben mag beschränkt sein, aber seine Annahme, dass es ein gutes Leben
gibt
und dass Geld nichts weiter als ein Mittel ist, um dieses gute Leben führen zu können, ist – mit Ausnahme der unseren – jeder großen Weltzivilisation zueigen. Indem Aristoteles diese Annahme in aller Deutlichkeit artikulierte, schuf er ein auf höchst unterschiedliche moralische Ideale anwendbares intellektuelles Gerüst. Juden, Christen, Moslems, sie alle konnten sein Gedankengebäude nutzen; selbst in solchen dem Abendland durch und durch fremden Zivilisationen wie denen Indiens und Chinas finden sich Parallelen dazu. Angesichts dieser umfassenden Zustimmung ist es unser Glaube an den Gelderwerb als Ziel an sich, der sich als Abweichung darstellt, als etwas, das der Erklärung bedarf.
Die Geburt des Christentums signalisierte eine Gewichtsverlagerung in der Haltung zum Bereich des Wirtschaftlichen, aber keine Revolution. Jesus’ Aufforderung, die Lilien des Feldes zu sehen, lässt sich ohne Weiteres in den Reigen der klassischen Schmähungen von Habgier und Luxus einreihen. Die Christen unterschieden sich von ihren heidnischen Vorfahren nur darin, dass sie die Weltablehnung als kollektives Projekt und nicht als einen Ausdruck individueller Unabhängigkeit betrachteten. Die
Agape,
die brüderliche Liebe, trat nun anstelle der
Autarkia,
der weitestgehenden Selbstversorgung, als Motiv für diese Zurückweisung. Zudem war den Christen eine besondere Hingabe den Armen gegenüber zueigen, den »Erben der Erde«, und eine quasi-rituelle Abscheuvor dem Geld, dem schmutzigen Mammon.[ 10 ] Schließlich waren es Silberlinge, Geldmünzen, die Judas hatten Christus verraten lassen. Doch dieser »Antikommerzialismus« fügte sich ohne Weiteres in den Rahmen des klassischen und des jüdischen Empfindens ein. Die eigentliche Neuartigkeit des Christentums lag anderswo.
Wie
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