Wie viel ist genug?: Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens. (German Edition)
einen gewissen Tellos als den glücklichsten Menschen. Krösus ist verletzt und verlangt eine Erklärung. Solon antwortet:
Tellos lebte in einer blühenden Stadt, hatte treffliche, wackere Söhne und sah, wie ihnen allen Kinder geboren wurden und wie diese alle am Leben blieben. Er war nach unseren heimischen Begriffen glücklich, und ein herrlicher Tod krönte sein Leben. In einer Schlacht zwischen Athenern und ihren Nachbarn in Eleusis brachte er durch sein Eingreifen die Feinde zum Weichen und starb den Heldentod. Die Athener begruben ihn auf Staatskosten an der Stelle, wo er gefallen war, und ehrten ihn sehr.[ 2 ]
Die Vorstellung von Glück, die in dieser Passage dargelegt wird, erscheint uns vertraut und fremd zugleich. Wir verstehen, warum Solon Tellos’ Reichtum, seine wohlgeratenen Söhne und seine Enkelkinder erwähnt. Natürlich macht so etwas einen Mann glücklich! Schwerer zu verstehen ist für uns der Verweis auf Tellos’ ruhmreichen Tod und sein Begräbnis. Davon hatte Tellos nichts mehr, allenfalls erfreute es seine hinterbliebenen Verwandten. (Natürlich könnte Tellos noch ein paar glückliche letzte Augenblicke gehabt haben, als er an seinen edlen Tod dachte, und seine Seele, wenn es so etwas denn gibt, könnte sich an seinem Nachruhm erfreut haben, aber das hatte Solon offenbar nicht im Sinn.) Der Kern des Rätsels besteht darin, dass
eudaimonia,
das griechische Wort, das üblicherweise mit »Glück« übersetzt wird, sich nicht auf einen
Bewusstseinszustand
bezieht, sondern auf einen bewundernswerten und erwünschten
Seinszustand.
Es geht nicht um das individuelle Bewusstsein, sondern um das öffentliche Urteil. Uns erscheintdieses Konzept heute seltsam diffus – teils Glück, teils Erfolg, teils Eigenschaft –, weil wir die Erben einer Revolution des Denkens sind, die weiter unten ausführlicher beschrieben wird. Durch diese Revolution haben wir das Verständnis für ein Konzept verloren, das die meiste Zeit in der westlichen Geschichte und immer noch in weiten Teilen der nichtwestlichen Welt als vollkommen klar gilt.
Solons Geschichte beleuchtet noch einen anderen Aspekt der vorsokratischen Vorstellung vom Glück: die Abhängigkeit vom Schicksal. Tellos’ Tod ist entscheidend wichtig für sein Glück, nicht nur weil er ruhmreich ist, sondern weil der Tod ihn vor weiteren Verlusten schützt. »Vor dem Tod aber darf man niemanden glücklich nennen«, formuliert es Solon – an diese Worte erinnert sich Krösus später, als die persischen Sieger ihn bei lebendigem Leib verbrennen. Herodots Moral ist klar: In einer unsicheren Welt, in der eifersüchtige Götter herrschen, ist es vermessen und dumm, mit Glück zu prahlen.
Solons Sicht, dass Glück ein Geschenk des Schicksals ist, stets gefährdet und widerrufbar, war ein zentrales Thema der antiken griechischen Literatur, vor allem der Tragödie. Doch ab dem späten 5. Jahrhundert wurde es von der elitären kulturellen Gegenbewegung namens Philosophie angegriffen. Glück, so behaupteten die Philosophen, sei eine Errungenschaft von Weisheit und Tugend, und beide lägen innerhalb unserer Macht. Sokrates und Plato gingen so weit zu behaupten, nichts, nicht einmal Folter, könne einem guten Mann sein Glück rauben. Aristoteles war wie üblich realistischer. Wenn Glück in der Tugend liege, erwiderte er, sei es immer noch vom Zufall abhängig, denn die Tugend – oder zumindest ihre Ausübung – erfordere günstige Umstände. Gewiss würde niemand Priamos, der seine Söhne und sein Königreich verloren hatte, glücklich nennen, und wer sage, ein Mensch auf der Folter sei glücklich, rede einfach Unsinn.[ 3 ]
Alle antiken Vorstellungen von Glück mit der wichtigen Ausnahme des Epikureismus sind objektiv; sie gehen der Frage nach: »Wie sieht das gute Leben aus, das vollständigste, menschlichste Leben?« Sie beschäftigen sich nicht damit, wie bestimmte Bewusstseinszustände erreicht werdenkönnen. Das Christentum blieb innerhalb dieses Rahmens, dehnte ihn aber bis zu einer paradoxen Grenze aus. Glück ist immer noch das Ziel des Menschen, aber es lässt sich nicht in weltlichen Gütern finden, nicht einmal in den ethischen und geistigen Gütern, die die Philosophen priesen. Vielmehr liegt es in solchen Umständen, die gemeinhin als
Unglück
bezeichnet werden, in Armut, Einsamkeit, Verfolgung und Tod. »Selig seid ihr«, sagt Christus, »wenn ihr […] beschimpft und verfolgt und auf alle mögliche Weise verleumdet werdet.« (Mt, 5,11) Das ist
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