Wie viel ist genug?: Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens. (German Edition)
Wissenschaftler könnten eine Droge entwickeln – eine Art Aspirin für die Seele –, die alle Erinnerungen an Trauer und Kummer löscht. Zeitungen und Nachrichtensender könnten aufhören, über Hungersnöte, Erdbeben und dergleichen zu berichten. Manches davon könnte tatsächlich funktionieren, aber nichts erscheint uns nur im Entferntesten wünschenswert.
Viele Religionen und philosophische Denkschulen sehen Traurigkeit als die angemessene Reaktion nicht nur auf eine individuelle Tragödie, sondern auf die Tragödie des menschlichen Lebens an sich. Im christlichen Westen ist diese Sicht weitgehend verschwunden, aber im orthodoxen Osten ist sie noch verbreitet. »Wenn Sie sich der Dinge wirklich bewusst sind, wie tragisch das Leben ist, dann ist Ihr Genuss begrenzt«, sagte Erzbischof Bloom einmal, das einstige Oberhaupt der russischorthodoxen Kirche in Großbritannien. »Mit Freude verhält es sich anders. Man kann ein starkes Gefühl innerer Freude und Erhebung haben, aber die Äußerlichkeiten des Lebens zu genießen mit dem Bewusstsein, dass so viele Menschen leiden […] das finde ich schwierig.«[ 38 ] Ähnliche Gedanken begegnen uns in vielen Weltreligionen. Selbst ein areligiöser lebensbejahender Mensch wie Nietzsche hatte wenig übrig für Glück, das nicht aus Leiden entstanden ist. »Der Mensch strebt nicht nach Glück«, schrieb er in einer berühmten Formulierung, »nur der Engländer tut das.«[ 39 ]
Ökonomische Glücksforscher werden das zweifellos als Leidenskult abtun. Doch man muss kein russischer Mönch oder deutscher Philosoph sein, um das Vorhaben, das Glück an sich zu maximieren, unabhängigvon seinen Objekten, einigermaßen beunruhigend zu finden. Denn die logische Schlussfolgerung eines solches Projekts ist, auf die äußeren Objekte ganz und gar zu verzichten und direkt auf das Gehirn zu zielen. Einige ökonomische Glücksforscher haben diesen Schluss bereits gezogen. Yew-Kwang Ng fordert Forschungen zur Hirnstimulierung, einer Operation, die in der Lage ist, »intensives Vergnügen [zu erzeugen], ohne den Grenznutzen zu vermindern«. Und munter fügt er hinzu, nur Gentechnik könnte wohl noch effizienter sein.[ 40 ] Richard Layard spricht begeistert über stimmungsverändernde Wirkstoffe, weniger als Medikamente bei Depressionen, sondern als Mittel zur generellen Steigerung des Wohlbefindens. Beständige Euphorie lehnt er nur ab, weil wir »schließlich […] ja noch unseren Lebensunterhalt verdienen« müssen.[ 41 ] Ansonsten aber wären wir in einem Zustand permanenter dumpfer Glückseligkeit besser aufgehoben.
In dieser schönen neuen Welt leben wir noch nicht. Layard und Ng wollen uns nicht zwingen, Soma zu schlucken oder unsere Gehirne stimulieren zu lassen. Sie sind, wie gesagt, begrenzte Maximierer: Sie wollen das Glück innerhalb des bestehenden Rahmens der Gesetze maximieren. Aber diese Beschreibung ist nicht sehr tröstlich, denn der intensivste und verstörendste Aspekt der schönen neuen Welt ist nicht Zwang, sondern Infantilisierung – das Verschwinden jedes Wunschs oder jeder Bindung an etwas, das die Lustproduktion unterbrechen könnte. Ein solches System ist nur zufällig ein Zwangssystem; es könnte genauso gut als Ergebnis individueller freier Entscheidungen entstehen, ohne dass einem jemand eine Pistole vorhält. Wenn Vergnügungen der von Ng beschriebenen Art auf dem Markt zu bekommen wären, könnte dann jemand von uns widerstehen?
Nur in dem sehr speziellen Fall der Depression ist eine unglückliche Verfassung eindeutig schlecht und ein legitimes Ziel öffentlichen Handelns. Aber die Depression ist ein Sonderfall. Sie bedeutet nicht nur extremes Unglück, sondern unpassendes, unverhältnismäßiges Unglück, und eben das macht sie so schlimm. (Eine trauernde Witwe ist vielleicht nicht weniger unglücklich als ein Mann mit einer Depression, aber ihrUnglück ist eine passende Reaktion auf einen Verlust, kein behandlungsbedürftiges Problem.) Die Depression ist ein Fall für die Medizin, sie wird unter der Rubrik geistige Gesundheit behandelt. Sie ist nicht, wie Layard es darstellt, Teil eines allgemeinen krisenhaften Unglücks, und der Kampf gegen die Depression sollte auch nicht als Teil eines umfassenden Bemühens, die Menschen glücklicher zu machen, gesehen werden.
Vom Wachstumsstreben zum Streben nach Glück überzugehen, bedeutet, ein falsches Ideal durch ein anderes zu ersetzen. Unser wahres Ziel als Individuen und als Staatsbürger ist nicht einfach,
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