Wie viel ist genug?: Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens. (German Edition)
Heideggers wenig oder nichts anfangen konnten.
Seit den 1970er-Jahren kleidet die Mehrheit der Umweltschützer ihre Argumente vorwiegend in die utilitaristische Sprache der Nachhaltigkeit, obwohl ihre tieferen Triebkräfte nach wie vor moralischer, ästhetischer und sogar religiöser Natur sind. Das hat zu einer Spannung innerhalb der Bewegung zwischen »tiefen« (deep) und »seichten« (shallow) Umweltschützern geführt. Erstere schätzen die Natur als Zweck an sich, Letztere als ein Mittel zu menschlichen Zwecken. (Der Kampf gegen die Erderwärmung ordnet sich selbst dem »seichten« Lager zu, obwohl, wie wir gesehen haben, viele seiner Anhänger »tiefe« Motive haben.) Eine ähnliche Spannung besteht zwischen den ursprünglich maschinenstürmerischen Neigungen der Umweltschützer und ihrem heutigen Vertrauen auf Computermodelle. Die gleichen Leute, die vor 40 Jahren vielleicht von »Technikfaschismus« gesprochen hätten, sind heute eiserne Verfechter der naturwissenschaftlichen Orthodoxie.
Die beiden Seiten der Umweltbewegung, die romantische und die wissenschaftliche, fließen in der Person von James Lovelock zusammen, Erfinder des Elektroneneinfangdetektors und Urheber der berühmtenGaia-Hypothese. Lovelock, ein Naturwissenschaftler mit vielfältigen Interessen in Geochemie, Ökologie und Kybernetik, kam zu der Erkenntnis, dass die Lebewesen eine entscheidende Rolle dabei spielen, Erdtemperatur und Erdatmosphäre in einem Zustand zu halten, der menschliches Leben ermöglicht. Das führte ihn zu der Überlegung, ob man sich nicht die Erde insgesamt als ein sich selbst regulierendes System ähnlich einem Organismus vorzustellen habe. Er sprach mit seinem Nachbarn, dem Schriftsteller William Golding, über seine Ahnung. »Ohne Zögern riet er [Golding], dieses Gebilde Gaia zu nennen, nach der griechischen Gottheit der Erde«.[ 23 ] Damit war ein neuer Mythos geboren.
Lovelock schlug Gaia zunächst als ein rein heuristisches Instrument vor, eine Möglichkeit, eine Hypothese zu fassen, nicht als eine faktische Aussage. »Gelegentlich war es schwierig, ohne ausgiebige Umschreibungen nicht so von Gaia zu sprechen, als sei sie bekanntermaßen ein fühlendes Wesen«, schrieb er 1979. »Dies ist um nichts ernster gemeint als die Bezeichnung ›sie‹ für ein Schiff, gebraucht von der Mannschaft, die auf ihm fährt.«[ 24 ] In Lovelocks aktuelleren Schriften sind die Einschränkungen verschwunden. »Was, wenn Maria nur ein anderer Name für Gaia ist?«, fragt er rhetorisch in seinem Buch
Das Gaia-Prinzip.
»Auf der Erde ist sie die Quelle immerwährenden Lebens – und sie lebt jetzt. Sie gab auch den Menschen das Leben, und wir sind ein Teil von ihr.«[ 25 ] Lovelock treibt hier ein doppeltes Spiel: Auf der einen Seite beruhigt er seine naturwissenschaftlichen Kollegen, auf der anderen zwinkert er den neuen Heiden zu. Die gebührend naturalistische, aber an mythischen Untertönen reiche Gaia ist die maßgeschneiderte Gottheit für ein zu transzendentalem Glauben unfähiges Zeitalter.
Gaias Botschaft ist ambivalent. Wenn sie robust ist (»eine zähe Alte«, wie Lovelocks Mitarbeiterin Lynn Margulis einmal sagte), kann sie sich vielleicht an alles anpassen, was wir ihr antun. Schließlich hat sie sich in ihrer langen Geschichte auf viele Störungen eingestellt. Aber vielleicht ist sie eben nicht mehr so robust. Oder ihre »Anpassung« an diese spezielle Störung wird so aussehen, dass sie die Quelle der Störung abstößt – uns. Lovelocks jüngstes Buch,
Gaias Rache,
beschreibt die letztgenannteMöglichkeit als wahrscheinlich. Nun ist Gaia nicht mehr die sanfte und zarte Jungfrau Maria, sondern eine heidnische Furie. »Wir erleben heute, dass Gaia, das große irdische System, sich wie andere mythische Gottheiten verhält: Kali und Nemesis. Sie ist eine fürsorgliche Mutter, zugleich aber gnadenlos grausam gegenüber allen, die die Regeln nicht einhalten, und seien es ihre eigenen Kinder.«[ 26 ]
Damit triumphiert die Wahrsagerei endgültig über die Naturwissenschaft. Lovelocks Katastrophenszenario hat weder eine empirische noch eine theoretische Begründung. Seine Logik ist die eines Mythos: Die Missetaten des Menschen verlangen nach Rache, und da Gott tot ist, muss die Natur das Schwert schwingen. In diesem Geist rief Wordsworth in dem oben zitierten Gedicht die Natur auf, »ihre verletzten Rechte zu rächen«, und George Perkins Marsh, ein Naturforscher aus viktorianischer Zeit, sprach davon, die Natur räche
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