Wie viel kann eine Frau ertragen
nach Moskau. Wir waren einen Tag unterwegs. Als wir alle zusammen in Moskau ankamen, mussten die Schwestern meiner Stiefmutter ihre Koffer in ein Schließfach abgeben. Als sie die Koffer abholen wollten, waren zwei gestohlen. Gerade die waren weg, wo die besten Sachen eingepackt waren. So ist es, wenn Menschen, und in diesem Fall die Schwestern meiner Stiefmutter, so gierig sind! Kleine Sünden werden sofort bestraft. Meine Schwester Sara war richtig schadenfroh, und ich kann es verstehen.
In Moskau saßen wir vier Tage auf dem Flughafen. Es war ganz schön kalt für die Sommerzeit. Es hatte nur geregnet und gehagelt, und wir waren sehr sommerlich angezogen. Ich hatte nur ein dünnes Kleid an. Geschlafen haben wir auch auf dem Flughafen, beziehungsweise kaum geschlafen. Ich war wie besoffen ohne Schlaf, obwohl ich dieses Gefühl noch nie hatte. Bis dahin wusste ich nicht, wie Alkohol schmeckt. Aber auch diese Zeit ging vorbei.
Als wir endlich im Flugzeug saßen, am 19. Juli 1976, war ich sehr froh, es war ein sehr schönes Gefühl. Ich erinnere mich noch daran, als das Flugzeug abhob, es war ein schöner Anblick, wie das Flugzeug die Erde verließ. Danach bin ich eingeschlafen, nach fast drei schlaflosen Nächten wollte ich nichts mehr wissen.
Die Einreise in die BRD
Aufgewacht bin ich erst, als das Flugzeug zur Landung in Frankfurt ging. Wir sind kurz vor Mitternacht gelandet. Diese Lichter von oben zu sehen, es war so wunderschön, einfach umwerfend! Als wir die Erde der Bundesrepublik betreten durften, war mein Bruder Rudi neunzehn Jahre jung, Jakob war achtzehn, Waldemar dreizehn, Tina vier Jahre jung, Anna drei Monate und ich sechzehn Jahre jung. Mein Vater war siebenundvierzig und meine Stiefmutter sechsunddreißig Jahre alt.
Wir mussten durch die Schleusen gehen. Auch nachts waren so viele Menschen auf dem Flughafen. Es war ganz was Neues für mich, ich denke, auch für alle anderen. Die Aussiedler, die aus Russland kamen, wurden zu einer Gruppe bestellt und dann mit einem kleinen Bus nach Friedland gebracht. Als wir dann endlich in Friedland waren, es war noch immer Nacht, bekamen wir zwei Zimmer mit Hochbetten, wir waren ja auch immerhin sechs Kinder und zwei Erwachsene. Morgens mussten wir zum Registrieren unserer Personalien. Ich glaube, wir waren nur drei Tage in Friedland, dann mussten wir weiter. Und zwar nach Unna-Massen. Da waren wir drei, vier Wochen. Danach sind wir nach Bielefeld, meine Eltern haben es ausgesucht.
Erst sind wir in eine Notwohnung. Sie war auch sehr klein, aber es war ja auch vorübergehend. Wir waren ein, zwei Monate in dieser Wohnung. Mein Vater wurde in der Notwohnung achtundvierzig Jahre alt. An seinem Geburtstag durfte ich das erste Mal ein Glas Wein trinken. Da fühlte ich mich wie eine „Erwachsene“, ja, so ist es. Irgendwann haben wir dann eine Dreizimmerwohnung bekommen, und das mit sechs Kindern. Meine Eltern wollten keine größere Wohnung nehmen, sie wollten sparen, wie immer. Die Eltern haben dann das Wohnzimmer eingenommen mit Anna, Sonja und ich hatten ein Zimmer und die drei Jungs eins zusammen.
Wir sind in diese Stadt auch deswegen gezogen, weil Bielefeld noch eine Stadt war, die neue Aussiedler mit allem Drum und Dran unterstützt hat. So haben wir Geld für Möbel, Geschirr, Bettwäsche, Bekleidungsgeld und alles Mögliche bekommen. Für eine Grundausstattung eben. Das Fahrtgeld, quasi die Flugtickets, wurden auch erstattet. Meine Eltern haben für sich und alle Kinder Betten, Matratzen, Decken und Kissen bekommen. Es ging uns doch ziemlich gut.
Meine Brüder und ich sollten unsere Sprachkurse in Krefeld absolvieren, dieser Vorschlag kam vom Arbeitsamt. Mit meinen sechzehn Jahren war ich auch zu alt für die Schule. Aber, da es in Bielefeld eine Schule für Spätaussiedler gab und man bekam noch Geld (576,– DM im Monat) für den Besuch dieser Schule, war es natürlich sofort klar, dass ich diese Schule besuchen müsste. Gesprochen mit mir hat keiner und gefragt auch nicht, ob ich zu dieser Schule gehen will. Es war eine beschlossene Sache zwischen Vater und der Stiefmutter. Sie haben über mein Leben bestimmt, nur um ihre Vorteile zu haben. Ich hatte mich schon insgeheim sehr darauf gefreut, die Sprachkurse mitzumachen, um endlich von zu Hause wegzukommen. Aber Pustekuchen! Einer musste ja auch noch zu Hause putzen, kochen, auf die Kleinen aufpassen. Natürlich war das wieder ich, aber selbstverständlich! Ohne Wenn und Aber!
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