Wie viel Mensch braucht ein Hund: Tierisch menschliche Geschichten (German Edition)
die Tür zur Sommerküche geschlossen, weil sonst die kalte Morgenluft hereindringt. Wir decken gerade den Tisch, als ein lautes melodiöses Singen zu hören ist.
»Am Bruhunnen voor dem Tooooore …«, schmettert Erika in ihrem klaren Alt. Die Frauen stürzen zu den Fenstern, um die Quelle des frohen Gesanges zu sehen. Mit einer Vorahnung folge ich ihnen.
Und tatsächlich: Erika tut das, was sie jeden Morgen vom Frühjahr bis zum Herbst tut. Sie läuft splitternackt mit zwei Wassereimern in den Händen in die Mitte des Hofes. Fröhlich singend hebt sie den ersten Eimer an und schüttet sein kühles Nass über sich. »Huuuuuu, haaaa«, tönt es jetzt begeistert aus ihrer kräftigen Lunge. Ihr siebzigjähriger Körper wirkt kraftvoll in der Morgensonne. Er hat die zeitlose Unbefangenheit und Schönheit eines Tieres. Diese Fähigkeit, ganz in einem Moment zu leben, habe ich an Erika schon immer bewundert. (Sie hatte allerdings auch schon zur Folge, dass Erika zu ihren eigenen Vernissagen zu spät kam, weil sie sich an einen Moment verloren hatte, der erst unbedingt zu Ende gelebt werden musste, bevor der Moment ihrer Vernissage beginnen konnte.)
Die Frauen starren entgeistert auf die nackte Bildhauerin im Hof. Erika nimmt den zweiten Eimer auf und gießt sich das kalte Wasser über den Körper, während das Schubertlied seinem Höhepunkt entgegengeht.
»Der Huuuuut flog mir vom Kooooopfe. Ich weeeendete mihich nicht. Nun biiiiin ich manche Stuhunde entfernt von diesem Oooort …« Sie knallt die beiden leeren Eimer aneinander und läuft mit ihnen klimpernd und wie ein Kind lachend zurück ins Haus. »Und immer hör ich’s rauschen … Du fäähändest Ruhe dort … Am Bruhunnen vor dem Tooore.« Die Haustür schließt sich hinter ihr.
Ohne ein Wort zu sagen, drehen sich die Frauen von den Fenstern weg. Das Geschenk, das Erika uns, ohne es zu wissen, gerade gemacht hat, liegt während des gesamten Frühstücks in der Luft. Keine der Frauen spricht mehr über Kalorien oder den Fettgehalt der Nahrung. Farina nimmt sich ein gekochtes Ei und isst es langsam und bedächtig, aber in Gänze auf.
Als ich Erika das Ganze später erzähle, sieht sie mich verständnislos an und wartet auf die Pointe.
Ich beschließe, Farina die Übung, vor der sie am meisten Angst hat, zuerst mit einem anderen Hund ausführen zu lassen.
Da die Unterbrechung der eigenen Automatismen auch für die anderen Frauen schwierig ist, tausche ich bei allen die Hunde aus. Farina lasse ich mit dem schwierigsten Hund, einem angstaggressiven türkischen Straßenhund, arbeiten. Der Hund heißt Jack und trägt in seinem kurzen schwarzen Fell unzählige Narben von Straßenkämpfen. Er hat die Größe eines Labradors und die Statur eines Pitbulls. Bisher hatte er sich die unangemessene Einmischung seines ängstlichen, zur Hysterie neigenden Frauchens erfolgreich mit Bissen verbeten. Ganz ähnlich wie Lord, der Farina mit seinem Anspringen maßregelt, wenn sie wütend oder angstvoll an ihn herantritt. Jack ist jedoch unsicherer als Lord und deshalb schärfer in seinen Handlungen. Auch macht er den Eindruck, als hätte er selbst schon einiges an menschlichen Aggressionen erlebt und nun die Entscheidung getroffen zuzubeißen, bevor ihm etwas passieren kann.
Ich habe bereits mit ihm gearbeitet und weiß, dass hinter dieser kriegerischen Fassade ein sehr weicher und lieber Charakter steckt, der gut auf eine souveräne Führung anspricht. Dennoch versehe ich ihn mit einem Maulkorb, solange Farina mit ihm arbeitet. Es ist ein weicher Gitter-Ledermaulkorb, der keine Bisse zulässt, ihn aber das Maul leicht öffnen und mit der Zunge Futter aufnehmen lässt.
Die junge Frau soll eine volle Dose mit Putenfleisch für sich beanspruchen und für Jack zum Tabu erklären.
Farina stellt die Dose, begleitet von einem »Scht«, auf den Boden und der ehemalige Straßenhund schießt in Erinnerung an seine frühere Überlebensstrategie rasant darauf zu. Farina geht ihm ohne Zögern entgegen und blockiert den Weg. Zwei Krieger messen sich mit den Augen.
»Farina, sehr gut. Jetzt werd noch viel cooler«, rufe ich ihr zu. »Du darfst nicht mit ihm kämpfen, wenn du führen willst.«
»Wie mache ich das?«, ruft sie zurück und lässt den Hund nicht aus den Augen.
»Lass alle Emotionen beiseite. Du hast ja nichts gegen ihn. Er soll nur respektieren, dass die Dose dir gehört. Also beanspruche sie selbstbewusst und ruhig. Du kannst dynamisch auf ihn zugehen, damit er
Weitere Kostenlose Bücher