Wie viel Mensch braucht ein Hund: Tierisch menschliche Geschichten (German Edition)
versperrt. »Ich bin gespannt«, eröffne ich das Gespräch und blicke sie erwartungsvoll an.
»Platz«, wendet sie sich mit auffälliger Strenge an den Hund. Der Malinois fällt auf den Bauch, wie von einer Kugel getroffen. Sein erregtes Hecheln und sein verstörter, weit aufgerissener Blick bleiben.
»Also, es ist mir nicht leichtgefallen hierherzukommen«, sagt die Frau mit fester Stimme. »Ich bin seit zehn Jahren Polizeihundeführerin und dachte eigentlich, dass mich nichts überraschen könnte, aber dieser Hund hier kann es. Ich habe ihn jetzt ein Jahr. Wilson war am Anfang einer der geeignetsten Hunde für den Schutzdienst überhaupt. Er hat einen starken Arbeitswillen und ließ sich von nichts ablenken, während er arbeitete. Jetzt ist er so drauf, wie Sie ihn gerade erlebt haben, und kann sich auf nichts mehr konzentrieren.« Sie nickt dabei in Richtung des Hundes, der gebannt auf die Paletten schaut, als könne er mit seinem Blick ein Loch hineinstarren, das ihm eine freie Sicht auf den Gleisbereich der S-Bahn gewährt.
»Wie und wann ist die Veränderung denn eingetreten?«, erkundige ich mich.
»Also, ein Kollege hat aus Versehen den Beißarm, mit dem wir das Zufassen trainieren, auf einer Bank liegen lassen. Wilson hat ihn sich geschnappt, und ich habe es erst mitbekommen, als er bereits völlig ausgerastet ist. Er war dabei, ihn zu zerlegen, und wollte ihn nicht mehr hergeben. Bis dahin hatte er immer sofort losgelassen, wenn ich ›Aus‹ gesagt hatte. Jetzt war er wie im Beuterausch. Ich habe keine Ahnung, was da plötzlich abging. Seitdem konnte er nicht mehr aufhören, wenn er einmal angefangen hatte. Diese ›Rauschzustände‹ waren ein hinreichender Grund, ihn vom Polizeidienst auszuschließen, denn er muss ja sofort von einem Menschen ablassen, wenn ich es sage, und er darf auch nicht richtig zubeißen, sondern soll den Arm nur fassen. Deshalb musste ich zu härteren Maßnahmen greifen …« Sie stockt einen Moment und sieht mich prüfend an. »Also das Loslassen klappt jetzt wieder perfekt.« Für einen Augenblick scheint sie den Faden verloren zu haben, dann fährt sie fort: »Aber dann fing er plötzlich an, auf alles anzuspringen, was sich bewegt. Sie haben es ja selbst gesehen.« Ihre Fingerspitzen reiben über ihre Stirn. »Und er verweigert inzwischen sogar das Fressen. Ich bekomme fast nichts mehr in ihn hinein. Der Tierarzt hat nichts weiter feststellen können. Wilson ist nun leider nicht mehr geeignet für den Polizeidienst. Und ganz ehrlich«, hier sieht sie mich zum ersten Mal direkt an, »das ist für uns beide eine Katastrophe. Ich müsste ihn abgeben und würde einen neuen Hund zugeteilt bekommen.« Die Frau schluckt, drückt mit einem tiefen Atemzug den Rücken durch und sagt dann leise: »Ich hatte ja schon viele Hunde und sie waren alle toll, aber an dem hier hänge ich irgendwie am meisten.« Dabei blickt sie auf Wilson, der stark hechelnd und in eingefrorener Haltung weiter die Paletten zu durchstarren sucht, um auf die S-Bahn-Gleise blicken zu können.
»Warum können Sie ihn denn nicht privat behalten?«, frage ich.
»Na, der völlig unregelmäßige Schichtdienst. Da passt kein privater Hund rein, nur einer, der mitarbeitet und dabei sein kann. Auch hätte ich ja dann zwei Hunde, einen neuen Diensthund und einen Privathund. Das würde ich niemals zeitlich unter einen Hut bekommen.«
Ich nicke und erkundige mich: »Wie wurde er denn auf den Beißarm trainiert?«,
»Mit dem Hund wird so gearbeitet, dass er den Beißarm als Beute ansieht und über sein Beuteverhalten ausgebildet werden kann. Dabei ist es schwer, dem Hund in dieser Situation Gehorsam zu vermitteln, denn um andere Befehle wie zum Beispiel das Verbellen zu erlernen, darf man das Wesen des Hundes nicht so abschwächen wie in der Unterordnung, wo man dem Hund keine eigenen Entscheidungen mehr erlaubt. Das Stellen und Verbellen sind aber eigenständige Handlungen, weil der Hundeführer dabei oft weit entfernt vom Hund ist. Wir versuchen nun, die Hunde überwiegend über Motivation und Spiel auszubilden. Der Hund im Training lernt also nicht, einen Menschen zu beißen, er erbeutet vielmehr den Beißarm. Der Hund ist von Natur aus ein Beutegreifer, er muss in freier Wildbahn jagen und seine Beute festhalten. Genau das macht er beim Schutzdienst auch, deswegen sollte ein ausgeprägter Jagdtrieb des Hundes die Voraussetzung sein.«
»Und wie schafften Sie es, dass Wilson den Beißarm sofort loslässt, wenn Sie
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