Wie viel Mensch braucht ein Hund: Tierisch menschliche Geschichten (German Edition)
es sagen?«, frage ich weiter.
»Nun, Wilson ist sehr triebstark, deshalb war es einfach, ihn mit einer anderen Beute dafür zu belohnen, dass er die Beute, also den Beißarm, ausgibt.«
»Und was verwenden Sie als Beuteersatz?«, erkundige ich mich.
»Also, er reagiert besonders auf Beute, die sich bewegt, sehr gut. Deshalb nahm ich einen Ball.«
»Worin vermuten Sie denn selbst den Grund für Wilsons Veränderung?«, frage ich.
Die Frau hebt kurz die Schultern an. »Das ist mir bei einem anderen Hund noch nie passiert. Ich habe schon viele Schutzhunde ausgebildet und mit ihnen gearbeitet. Sie waren alle auf die Beute fixiert, aber sie haben auf mich gehört.« Wir blicken beide auf Wilson, der in zwei Meter Entfernung einen kleinen weißen Papierschnipsel auf der Wiese entdeckt hat, der vom Wind bewegt wird. Leise winselnd starrt Wilson nun auf den Schnipsel.
»Auf was reagiert er denn noch?«, frage ich, auf den Papierschnipsel zeigend.
»Auf Fahrräder, Autos, Skateboards und so weiter, was während der Arbeit natürlich eine Katastrophe ist«, sagt die Frau seufzend. »Ich habe auch für diese Fälle sofort mit ihm trainiert, bin an eine Hauptstraße gegangen und habe ihn stundenlang ›Sitz‹ und ›Platz‹ machen lassen. Er liegt dann auch gehorsam da, aber sobald wir weitergehen, jagt er wieder.«
»Hat er ein Lieblingsspielzeug?«, will ich wissen.
»Ja, am meisten liebt er inzwischen seinen Kong.« (Ein Kong ist ein spezieller Ball aus Naturkautschuk, der sich durch seine ovale Form von einem normalen Ball unterscheidet. Wirft man ihn, ist sein Abprall vom Boden unberechenbar, was einen besonderen Reiz für Hunde darstellt, die jagend auf Bewegung reagieren.)
Meinen erstaunten Blick bemerkend, fragt die Frau: »Was ist denn?«
»Belohnen Sie ihn damit noch immer?«
Sie blickt mich irritiert an. »Natürlich, es ist das Spielzeug, das er heiß und innig liebt. Damit kann ich ihn auch häufig noch ablenken von den anderen Sachen. Trägt er seinen Kong, können wir auf fast vernünftige Weise eine Straße entlanglaufen.«
Wilson hechelt stark und Speichel fließt aus seinem Maul auf den Boden. Die Frau zeigt auf einen gefüllten Wassernapf, den ich zum Training bereitgestellt habe: »Darf ich ihm davon geben?«
»Natürlich. Ich befürchte nur, dass er jetzt nichts trinken kann«, sage ich.
»Wie kommen Sie darauf, er hat doch großen Durst?«, erwidert die Frau etwas schärfer und stellt den Napf vor den Hund. Dieser wendet seinen Blick nicht von dem Papierschnipsel und ignoriert den Napf. Die Frau benetzt ihre Hand mit Wasser und streicht Wilson damit über die Schnauze. Er reagiert nicht. »Woher wussten Sie, dass er nichts trinken wird?«, fragt sie skeptisch.
»Nun, Sie kennen ja Ähnliches sicher aus Ihrem Beruf als Polizistin. Ein Mensch, der gerade einen starken Suchtdruck verspürt, kann an nichts anderes denken, außer daran, seine Sucht zu befriedigen. Er befindet sich in einem physischen und psychischen Ausnahmezustand und spürt seine natürlichen Bedürfnisse gar nicht mehr. Wenn Sie einem Junkie mit Suchtdruck ein Glas Wasser reichten, erhielten Sie dasselbe Resultat wie bei Wilson.«
»Aber Wilson ist doch nicht süchtig. Er will doch nur Beute machen, weil er so triebstark ist«, wehrt die Frau ab. »Es begeistert ihn einfach.«
Ich sehe zu dem Malinois, der mit weit zurückgezogenen Lefzen gestresst hechelt, und überlege, wie ich meine andere Wahrnehmung der Situation am besten schildere. Schließlich habe ich es hier mit einer Frau zu tun, die selbst seit vielen Jahren mit Hunden arbeitet, und sie soll meine Meinung zu diesem Thema nicht als Abwertung ihrer Arbeit, sondern nur als neuen Impuls verstehen.
»Haben Sie den Kong dabei?«, frage ich, da ich mich zu einer praktischen Demonstration entschlossen habe, die keinen so belehrenden Charakter hat wie bloße Behauptungen. Die Frau nickt.
»Würden Sie ihn bitte einmal herausholen und vor sich hinlegen?« Die Frau greift in ihren Rucksack. Bereits während sie den Kong herauszieht, springt der Hund voller Erregung auf. »Platz«, sagt sie streng. Wilson macht »Platz« und starrt mit stark zitterndem Kopf auf den Kong, den die Frau zwischen ihre Beine auf den Boden gelegt hat.
»Sehen Sie, er ist gehorsam, obwohl er ihn gern haben möchte«, sie weist auf den Hund.
Dieser fiept leise, um etwas von der Erregung abzulassen, die ihn fast explodieren lässt. Ich atme bei diesem Anblick tief aus und sage: »Sicher kommt
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