Wie viel Mensch braucht ein Hund: Tierisch menschliche Geschichten (German Edition)
es wie bei allen Dingen darauf an, wie man etwas interpretiert. In meinem Erleben ist Gehorsam, dass ein Hund mir zuhören kann, weil er innerlich ruhig ist und sich mir anvertraut. Ein Hund, der zwar ein Kommando ausführt, aber nur auf die Belohnung fixiert ist, so wie Wilson auf den Kong, ist nach meinem Empfinden nicht ›gehorsam‹. Er würde einfach alles tun, um seine Sucht zu befriedigen. Und er würde es für jeden tun, der den Kong hat. Deshalb kann ich bei Wilson im Augenblick keinen Gehorsam sehen, sondern nur ein Suchtverhalten.«
Die Frau verschränkt die Arme fest vor der Brust und erwidert: »Aber ich lasse ihn immer so lange ›Platz‹ machen, bis er mich ansieht, und erst dann werfe ich den Kong.«
Ich blicke auf den laut fiependen Hund, der in eingefrorener Haltung auf das Spielzeug starrt, und sage: »Nach meiner Erfahrung führen bei einem triebstarken Hund Kommandos nicht dazu, dass er sich auch innerlich entspannen kann. Er wird zwar durch das Kommando in seinem Impuls gebremst, die Beute zu greifen, wartet dann jedoch angespannt darauf, sie endlich haben zu können. Dabei entsteht häufig ein Triebstau, wie gerade bei Wilson auch. Auf mich wirkt er gerade wie ein voller Fahrradschlauch, der sich selbst am Platzen zu hindern sucht, indem er durch sein Fiepen immer wieder ein wenig Druck ablässt. Allerdings ›pumpt‹ bereits der Anblick des Kongs sofort wieder Luft in ihn hinein. Wenn Sie ihm jetzt erlauben würden, den Kong zu nehmen, würde er es mit seinem ganzen inzwischen angestauten Trieb tun und explodieren. Erlauben Sie es ihm nicht, muss er den Trieb umlenken in Reize, die sich selbst zur Verfügung stellen, wie zum Beispiel die vorbeifahrende S-Bahn oder der kleine Schnipsel hier.« Ich zeige auf das Stückchen Papier.
»Auch als Sie mir vorhin beschrieben, wie die Geschichte mit dem Beißarm verlief, dachte ich als Erstes an einen Triebstau, der sich entladen hat.«
»Aber wir halten den Trieb unserer Hunde sonst immer unter Kontrolle!«, wehrt die Frau ab.
»Genau das meine ich. Durch die Kontrolle über stumpfe Kommandos wie zum Beispiel ›Sitz‹ und ›Platz‹ muss der Hund seinen Beutetrieb zwar für eine gewisse Zeit zügeln, um das Kommando auszuführen, gerät dadurch aber häufig in einen Triebstau, weil seine Erregung kontinuierlich anwächst, ohne sich entladen zu können. Stoppt und unterbricht man ihn dagegen in seinem Beuteinstinkt, indem man einen anderen Instinkt bei ihm anspricht, nämlich den, sich der Entscheidung eines Leitwesens unterzuordnen, dessen Autorität er im Alltag erlebt und respektieren gelernt hat, kann er sich entspannen, obwohl Beute im Spiel ist.«
»Aber dann wäre der Beutetrieb ja weg, den wir für die Arbeit brauchen«, moniert die Frau mit unzufriedenem Gesicht.
Jetzt schüttele ich den Kopf. »Ein Hund kann ohne Mühe zwischen seinen Instinkten hin und her wechseln, wie jedes Säugetier. Wenn er zum Beispiel gerade ein Tier töten will und seinem Beutetrieb folgt, aber in diesem Moment selbst angegriffen wird, wechselt er sofort in den Selbstverteidigungstrieb und je nach Situation weiter in den Flucht- oder Kampftrieb. Lässt der Angreifer jedoch von ihm ab, könnte er sofort wieder in den Beutetrieb verfallen. Instinkte werden ja nicht ausgelöscht, nur weil sie kurzzeitig in den Hintergrund treten für einen anderen Instinkt.«
»Ich bin mir da noch nicht so sicher«, sagt die Frau und blickt skeptisch auf den zitternden Hund, der den Kong anstarrt. »Er ist nach meiner Meinung einfach nur begeistert von seinem Kong. Was hat das alles mit Sucht zu tun?«
»Also, Begeisterung sieht für mich anders aus«, sage ich betroffen.
»Auf Wilson bezogen würde ich sagen, Begeisterung für diesen Kong hieße, dass er damit sehr gern spielen will und das auch ausdrückt, aber nicht den inneren Druck hat, es unbedingt tun zu müssen .« Ich mache eine kleine Pause und füge dann hinzu; »Wilson muss es.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Hunde süchtig werden können.« Sie blickt mich abwehrend an.
»Warum nicht?«, frage ich erstaunt.
»Na, Hunde sind Hunde und Menschen sind Menschen.«
»Im Prinzip haben Sie Recht«, erwidere ich. »Kein Straßenhund wurde je dabei beobachtet, wie er Autos hütet. Kein wilder Hund dabei, dass er süchtig einem Ball hinterherjagt. Hunde, die nicht im engen Kontakt mit uns Menschen leben, zeigen keine neurotischen Obsessionen oder ein Suchtverhalten. Es ist die gezielte menschliche
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