Wie viel Mensch braucht ein Hund: Tierisch menschliche Geschichten (German Edition)
durchsetzen kann, weil ich ihr den Weg blockiere. »Du blöde Kuh, geh mir aus dem Weg. Haaa, ich bin stinksauer. Hilfe!!! Hey, lass mich das jetzt gefälligst machen. Hilfe!!!« – so ungefähr würde ich ihr Verhalten übersetzen. Es kann sehr wütend machen, ständig Angst zu haben und nichts daran ändern zu können.
So stoppe ich Marcys Anfall, indem ich ihr wieder einen körperlichen »Rahmen« gebe und warte, bis die Wut verraucht ist. Dann bitte ich Frieda zu mir, damit Marcy nicht den Eindruck gewinnt, sie hätte mit ihrem aggressiven Verhalten eine Entfernung des Hundes erreicht. Sie soll lernen, darauf zu vertrauen, dass nichts passiert, wenn eine Führung vorhanden ist, und sie soll sich auseinandersetzen lernen mit allem, was ihr regelmäßig einen Kontrollverlust verschafft. Zum ersten Mal wendet Marcy nun prüfend die Nase in Friedas Richtung.
»Geht doch. Sich informieren geht über losschreien«, sage ich anerkennend. Gemeinsam genießen wir ein paar Minuten den schönen Sonnentag.
Dann übergebe ich Marcy an Isabell. Der Hund schießt gewohnheitsmäßig nach vorn, und ich zeige der jungen Frau, wie sie den Raum vor sich beanspruchen kann, damit das nicht passiert.
Jeder kennt sicher die aufgeregten Hunde, die unruhig und/oder panisch um sich blickend vor ihrem Menschen in der Leine hängen und auf der Flucht sind. Sie müssen scannen, was ihnen entgegenkommt, denn die Situation ist ja nicht unter Kontrolle, niemand kümmert sich darum. Da der Mensch den Platz vorn nicht einnimmt, muss es der damit überforderte Hund tun. Zieht ein Mensch den Hund dann an der Leine nach hinten, verstärkt er die Anstrengung des Hundes, vorn bleiben zu wollen. Wie konnte der Mensch auch den wichtigsten Platz im Rudel einfach unbesetzt lassen? Wichtig ist es deshalb als Führender, diesen Raum zu sichern und dem Hund einen Abschluss nach vorn zu geben. Eine Ausnahme bildet die Situation, wenn man mit einem vorderen Leithund zusammenlebt. (In meinem russischen Rudel, beschrieben in meinem Buch »Wanja und die wilden Hunde«, war das der ruhige, souveräne Anton, der vorn den Schutz des zehnköpfigen Rudels übernahm. Da es die Lebensaufgabe eines vorderen Leithundes ist, genau das zu tun, wäre es unsinnig, ihm diese wegnehmen zu wollen.) Man erkennt einen solchen Hund an seiner Ruhe, mit der er Reizen, die von vorn kommen, entgegentritt. Marcy jedoch braucht unbedingt Schutz.
Diese Position kann man als Mensch nur einnehmen, wenn man es mit Präsenz und Bestimmtheit tut. Tritt man dem Hund nur rein mechanisch in den Weg, bildet man eher ein störendes Hindernis, das die meisten Hunde verzweifelt zu umrunden versuchen.
Ich weiß nicht, ob Isabell einfach ein Naturtalent ist, aber sie meistert das Ganze sehr schnell. Sobald Marcy nach vorn gehen will, warnt sie mit »Sst« und dreht sich mit Prägnanz kurz zu ihr ein, falls sie nicht stoppt. Mit einem kleinen Schritt von der Hündin weg überprüft sie, ob diese nicht sofort wieder nach vorn springt. Bleibt Marcy ruhig, kann es weitergehen. Versucht Marcy jedoch, um Isabell wie um ein Hindernis herumzulaufen, muss die junge Frau die Position erneut verhandeln.
Damit Sie dem Hund gegenüber keine Frustration aufbauen, wenn er mit Ihnen um den Raum zu kämpfen beginnt, stellen Sie sich einen leicht abschüssigen Boden vor, auf dem ein Ball immer wieder nach vorn rollt. Der »Ball« kann ja nichts dafür, er muss nach vorn rollen. Sie treten ihm immer wieder völlig cool entgegen und geben den Raum erst frei, wenn der Ball liegen bleibt. Wenn Sie das ohne eigenen Kampf tun, machen Sie es richtig.
Ein Leithund erhöht niemals den Druck, sondern nur seine Präsenz. Sie können Ihre Präsenz verbessern, indem Sie sich – statt lauter zu werden – vorstellen, innerlich immer »breiter« zu werden. Sagen Sie einfach einmal außerhalb einer solchen Situation deutlich »Nein«. War es völlig ruhig und überzeugend? Wenn nicht, stellen Sie sich eine Säule vor, die Sie in sich immer mehr verbreitern.
Dann sagen Sie noch einmal »Nein«. Das können Sie so lange ausprobieren, bis Sie von Ihrer Entschiedenheit überzeugt sind. »Cool« ist hier das Motto. Die »Säule« darf sich niemals »nach vorn richten«, weil das nur aggressiv wäre.
Ein Leithund ist immer der, der am wenigsten tun muss, um etwas durchzusetzen. Deshalb muss das Wenige, das er tut, äußerst überzeugend sein.
Isabell findet schnell in diese Rolle. Noch immer ist mir nicht ganz klar, woher sie
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