Wie viel Mensch braucht ein Hund: Tierisch menschliche Geschichten (German Edition)
Ausnahmezustand über einen längeren Zeitraum an, kann daraus eine Alltagshaltung werden, die der Betreffende so selbstverständlich mit sich herumträgt wie ein Maikäfer seinen Panzer.
Bei der Begrüßung spricht die junge Frau sehr leise. Ihre Gesichtszüge wirken durch ihre Bewegungslosigkeit wie auf Leinwand gemalt. Mein erster Gedanke ist: Warum gaben die Tierschützer gerade ihr einen solchen Hund? Isabell wirkt eher, als ob sie selbst sehr kraftvollen Beistand bräuchte. Ich mache mir Sorgen, ob es eine gute Idee ist, sie vor der Kamera sprechen zu lassen. Es könnte den Eindruck erwecken, sie in ihrer Langsamkeit und Schüchternheit vorführen zu wollen.
Dann werde ich überrascht. Isabell spricht vor der Kamera so klar, wach und souverän, dass ich die junge Frau am liebsten »aufklappen« würde, um nachzusehen, wo diese lebendige Person verborgen ist.
»Ich bin erst vor drei Wochen von der Stadt in dieses Dorf gezogen. Der alte Mann dort«, sie weist mit dem Kopf in Richtung Haus und zieht die Schultern zusammen, als würde sie frösteln, »wohnt unten und ich oben. Es war die einzige Möglichkeit, einen bezahlbaren ruhigen Wohnplatz für Marcy zu finden. Sie war in der Stadt täglich so gestresst, dass sie nachts immer Durchfall hatte.« Ihr schleppender Tonfall steht der Klarheit ihrer Äußerungen seltsam widersprüchlich gegenüber. »Ich war mit ihr lange in einer Hundeschule, die mit positiven Verstärkern wie dem Clicker 1 arbeitet, aber es wurde immer schlimmer. Ich brachte sie mit Hunden und Menschen zusammen, damit sie ihre Ängste und Aggressionen ablegen kann, aber vergeblich. Dann begann ich, die Wege zu meiden, auf denen wir Menschen oder Hunde trafen. Aber das war in der Stadt sehr schwierig, und wenn wir doch einmal eine Begegnung hatten, schien alles noch schlimmer als zuvor. Deshalb bin ich jetzt hierhergezogen, wo nichts und niemand ist.« Sie weist um sich, und die vollkommene Stille um uns untermalt ihre Aussage ausdrucksvoll.
Bisher habe ich Marcy nur beobachtet und noch keinen Kontakt zu ihr aufgenommen. Wir gehen in das Haus hinein und klettern eine steile Treppe in das Dachgeschoss hinauf zu Isabells Reich. Dort führen Isabell und ich noch ein vorbereitendes Gespräch, bevor ich mit dem Kameramann die Wohnstube betrete, in der Marcy nun wartet. Die Hündin schießt bellend nach vorn und schnappt uns in Knie und Schienbeine. Während ich mich vor den Kameramann dränge, erhöht sie die Frequenz der Bisse und verwendet dabei die Schneidezähne, in Verbindung mit einem Stoßen der ganzen Schnauze. Wäre Marcy nicht auch so ängstlich, würde ich frontal auf sie zugehen, ihr aktiv den Raum abnehmen und sie für das Schnappen disziplinieren. Das wäre in ihrem Fall jedoch zu massiv und unangemessen. Sie lässt ohnehin von mir ab, als ich mich von ihren Drohgebärden nicht beeindrucken lasse und ohne Blickkontakt auf dem Sofa Platz nehme.
Dann bücke ich mich und greife nach der kurzen Leine, die an ihr hängt. Sie schießt zu mir herum und schnappt wie verrückt in meine Hände und Unterarme. Sie tut das nicht, weil sie im Wesen aggressiv wäre, sondern weil diese Abwehrtaktik bisher funktioniert hat. Weil Marcy um ein Vielfaches panischer reagiert als es der realen Situation angemessen wäre, gehe ich davon aus, dass sie die Sicherheit, in der sie seit einem Jahr tatsächlich lebt, noch gar nicht wahrgenommen hat. Sie scheint in den Verhaltensweisen stecken geblieben zu sein, mit denen sie aus Russland hier ankam. Ihr Repertoire, mit fremden Menschen oder fremden Hunden umzugehen, hat sich nicht erweitert. Nicht durch Leckerchen, nicht durch wiederholte Begegnungen, nicht durch das Vertrauen zu Isabell. Deshalb weiche ich jetzt weder zurück noch ziehe ich meine Hände vor den Schnappern weg. Gelingt es mir nicht, Marcys bisherige Handlungsweise aufzulösen, kann sie zu keiner neuen Kompetenz finden und wird sich Fremde weiter bellend und schnappend vom Hals zu halten suchen. Da ich sie durch das Halten der Leine daran hindere wegzulaufen, schreit sie panisch und wütend zugleich. (Später wird diese Sequenz der Einstieg im Film sein.) Aus Erfahrung weiß ich, dass ich Marcy durch diese Ängste jetzt hindurchführen und anschließend auch auffangen kann.
Es ist jedoch nicht ratsam, so etwas ohne ausreichende Erfahrung zu tun. Man muss dazu in der Lage sein, die Emotionen des Hundes mitzuverfolgen, indem man zulässt, dass sie eine Resonanz in einem erzeugen. Man muss also
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