Wie viel Mensch braucht ein Hund: Tierisch menschliche Geschichten (German Edition)
Elektrorollstuhl eine Wendung und steuert auf einen Typ von Neubau zu, den es in diesem Berliner Bezirk häufiger gibt. Vier Stockwerke, weiß, Kastenform. Die Hündin folgt der Frau in einer steifbeinigen, staksigen Haltung, die nicht selbst gewählt, sondern wie ein Automatismus wirkt. Plötzlich überholt sie den Rollstuhl und versucht, ins Haus zu fliehen. Sie zieht dabei so heftig an der Leine, dass der Rollstuhl herumgerissen wird und sich querstellt. »Siehst du«, kommentiert die Frau und bringt sich wieder in die richtige Fahrtrichtung.
In der Erdgeschosswohnung steht die Hündin erstarrt neben uns, und es wird nicht deutlich, ob sie mich wahrnimmt und sich deshalb tot stellt, oder ob sie sich tot stellt und mich deshalb nicht wahrnehmen kann. »Ich leine sie jetzt ab, und du wirst sehen, was passiert«, sagt Beate. Sie klickt den Karabiner der Leine auf, und die Hündin schießt nach vorn, um über den Flur zu fliehen. Dabei grätschen ihre Beine mehrfach unkoordiniert auseinander. Durch ihr struppiges Fell ist nicht auszumachen, ob dies nur an ihrer Panik liegt oder auch an einer zu schwach ausgebildeten Muskulatur ihres Bewegungsapparates. Sie verschwindet um die Ecke in ein geöffnetes Zimmer.
»So ist es immer, geh ruhig nachschauen, was sie dort macht«, sagt Beate und weist mit der Hand in die betreffende Richtung. Ich folge der Aufforderung und gehe der Hündin nach. In dem Zimmer, in das sie verschwunden ist, sehe ich ein großes Bett, zwei Stühle und einen Schrank. Auf meinen fragenden Blick hin zeigt Beate mit einem Finger unter ihren Rollstuhl, um anzudeuten, dass die Hündin sich unter etwas verkrochen hat. Ich gehe auf die Knie und sehe sie zusammengekauert unter dem Bett liegen. Ihr Gesicht ist erstarrt, ihr Maul fest geschlossen, ihr Blick leer auf einen Punkt gerichtet.
»Dort wohnt sie seit einem halben Jahr«, sagt Beate hinter mir. »Sie kommt nur nachts heraus, wenn wir schlafen. Dann trinkt sie, frisst und löst sich in der Wohnung. Deshalb haben wir keine Teppiche mehr.«
»Wie oft hast du sie schon von dort vorgeholt?«, frage ich sehr betroffen.
»Mein Mann hat sie am Anfang täglich herausgezogen, und wir haben die Schlafzimmertür geschlossen, damit sie sich nicht wieder verstecken kann. Aber dann hat sie entweder stundenlang wie erstarrt dagestanden oder sich woandershin verkrochen. Deshalb haben wir sie nicht mehr gezwungen und gehofft, sie käme, wie von den Tierschützern vorausgesagt, irgendwann von alleine wieder hervor«, fügt sie etwas leiser hinzu.
Aus den Augenwinkeln heraus sehe ich plötzlich etwas, das nicht ins Bild passt. Beate steht. In den Türrahmen gelehnt. Aufgerichtet und ohne die Decke über den Beinen, sehe ich eine kleine, zarte Person mit einer jungendlich mädchenhaften Ausstrahlung. Meinen verdutzten Gesichtsausdruck bemerkend, sagt sie: »Das ist keine spontane Wunderheilung. In der Wohnung kann ich mich abstützen und sehr langsam gehen. Ich habe eine fortschreitende Muskelschwäche.«
Im Wohnzimmer erwartet uns ein gedeckter Kaffeetisch und ein im Sessel sitzender Mann, der eine Zeitung wie einen Schutzschild vor sein Gesicht hält. Auch als wir den Raum betreten, senkt er die Lektüre nicht.
»Helmut!?«, sagt Beate mit einem gewissen mahnenden Ton in der Stimme.
Meine Befürchtung, der Mann könnte meinem Besuch ablehnend gegenüberstehen und sich deshalb so verhalten, löst sich in Luft auf, als er die Zeitung sinken lässt und – wie aus einer anderen Welt auftauchend – sagt: »Ach ja. Geht’s los?«
»Ja, klar, wir sind schon eine Weile hier, das musst du doch gehört haben«, antwortet Beate.
Der Mann blickt uns mit einer Verständnislosigkeit an, die in ihrer Echtheit fast rührend wirkt. »Ja, ja, gehört habe ich euch«, erwidert er.
»Und könntest du dann auch guten Tag sagen?«, fragt die Frau in einem Tonfall, als müsse sie einem leicht begriffsstutzigen Kind auf die Sprünge helfen.
»Guten Tag, Thiele«, sagt der Mann und bleibt sitzen.
Beate hebt ergeben die Schultern und ergänzt, sich noch einmal an ihn wendend: »Und wir duzen uns schon mit Frau Nowak.«
»Wie?«, fragt der Mann verwirrt.
»Wir können uns, wenn Sie einverstanden sind, gern duzen. Ich bin Maja«, versuche ich, zur Klärung beizutragen.
»Dann bin ich der Helmut«, antwortet er sachlich und fährt sich mit dem Zeigefinger über einen blonden Oberlippenbart.
»Er meint es nicht böse. Ein Diplomat wird nie aus ihm werden«, erklärt Beate
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