Wie weit du auch gehst ... (German Edition)
schüttelte sie den Kopf und dachte an ihren Sohn. Nur Eliah war es nicht schwergefallen, sich an ihren neuen Namen zu gewöhnen.
Manchmal kam ihr die Zeit vor ihrem Eintritt in das Zeugenschutzprogramm wie ein ferner Traum vor. Oder besser gesagt wie ein ferner Albtraum. Ohne zu lügen, konnte sie behaupten, dass sich ihr Leben in jeder Hinsicht gebessert hatte. Nicht nur ihres, sondern auch Eliahs. Ihr anfänglich schüchterner und schreckhafter Sohn war mittlerweile ein ganz normaler Junge. Sogar das von seiner Behinderung herrührende Hinken hatte sich erheblich gebessert.
Dafür war sie von Herzen dankbar. Sie war für vieles dankbar. Dafür, dass sie finanziell unabhängig war, oder für die Tatsache, dass sie ohne Angst nach Hause gehen konnte. Nie mehr befürchten musste, mit einer unbedachten Aussage oder Handlung die Wut eines Mannes heraufzubeschwören. Sie lebte allein. Sie wollte es so. Die seelischen Narben saßen tief und würden wahrscheinlich nie ganz verschwinden.
Selbst heute noch konnte sie sich nicht vorstellen, jemals wieder eine Beziehung einzugehen, geschweige denn, körperliche Nähe zuzulassen. Allein der Gedanke verursachte ihr immer noch Übelkeit. Die furchtbaren Erlebnisse mit Michael waren in ihrem Gedächtnis eingebrannt, hatten Misstrauen und Angst gesät, die sich nicht überwinden ließen.
Das war auch der Grund, warum Constanze jegliche Annäherungsversuche von Männern bereits im Keim erstickte. Zu ihrem Leidwesen hatte das allerdings bei Roland Becker, ihrem aufdringlichen Nachbarn, nicht gefruchtet, denn er machte ihr trotzdem hartnäckig den Hof. Es fiel ihr immer schwerer, ihn höflich zurückzuweisen. Wie sagte man einem Mann, der sich als guter Freund ausgab, dass er unerwünscht war – und das möglichst, ohne ihn zu verärgern? Eine gute Nachbarschaft war eine der wichtigsten Voraussetzungen für ein ruhiges Leben. Obwohl das nicht hieß, dass sie nicht weiterhin versuchen konnte, sich höflich zurückzuziehen. Einen beleidigten Gockel wollte sie möglichst lange nicht riskieren – und erst recht nicht irgendwelches Getuschel, das er aus verletztem Stolz vielleicht provozieren würde.
Nur ihre Freunde Susanne und Frank Schütz kannten den wahren Hintergrund ihres Lebens. Aber im Gegensatz zu ihrem Nachbarn handelte es sich bei den beiden um Menschen, denen sie uneingeschränktes Vertrauen entgegenbrachte. Das Paar war etwa in ihrem Alter und wohnte nur wenige Kilometer entfernt.
Susanne arbeitete als Lektorin in einem der Verlage, mit denen Constanze über ihren Buchhandel in Verbindung stand. Sie waren sich bei einer Buchbesprechung über den Weg gelaufen und hatten sich auf Anhieb gemocht. Weil Eliah in den beiden Söhnen von Frank und Susanne gleichzeitig seine besten Spielkameraden gefunden hatte, trafen sie sich regelmäßig und oft. Die vier waren für Constanze aus ihrer kleinen Familie nicht mehr wegzudenken.
Obwohl Frank als Detektiv seine Brötchen verdiente und folglich schon einiges gesehen und gehört hatte, war das Paar schockiert gewesen, als sich Constanze vor knapp zwei Jahren ein Herz gefasst und ihre Geschichte erzählt hatte.
Susanne hatte sie daraufhin in die Arme geschlossen, während ihr Mann derart fantasievoll über Michael geflucht hatte, dass Constanze bei den Gedanken daran sogar heute noch lächeln musste. Nie hätte sie erwartet, einmal solch liebe Freunde zu finden. Nur bei ihnen fühlte sie sich ungezwungen und konnte sie selbst sein.
Beates Stimme riss sie aus ihrer Erinnerung. »Sabine, da ist ein Anruf für dich. Ein Herr Becker.«
Sie verdrehte die Augen. Wenn man vom Teufel sprach …
Gespannt, was sich Roland nun schon wieder ausgedacht hatte, um sich ihre Gesellschaft zu sichern, steuerte sie auf das Büro zu. Beate empfing sie mit einem mitfühlenden Blick. Roland war bereits des Öfteren in der Buchhandlung aufgetaucht, daher war sie über das Dilemma weitgehend im Bilde.
»Sabine Anger«, meldete sie sich mit neutraler Stimme.
»Hallo Sabine, hier ist Roland.« Er klang wie immer aufgeregt und atemlos.
»Hallo, was gibt’s denn?« Sie wunderte sich, wie freundlich ihr die Worte trotz ihres Unmuts über die Lippen kamen, wahrscheinlich noch Reste aus der jahrelangen Übung mit Michael.
»Ich wollte dich nur fragen, wann du heute Abend zu Hause bist. Ich habe vorhin ein Päckchen für dich angenommen und das würde ich gern vorbeibringen.«
Constanze konnte sich lebhaft vorstellen, wie er dem armen Briefträger
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