Wiedergaenger
für das Wetter auf dem ganzen
Globus verantwortlich. Behauptet Geir. Inwieweit seine Ausführungen
Ironie beinhalten, vermag Liv auch nach längerem Zuhören
nicht zu beurteilen. Ein humorvoller Mensch ist er allemal.
»Ihr scheint ja äußerst bescheiden zu sein in
eurem Blick auf die Welt und den Verlauf der Geschichte.Aber was hat
das nun mit dem speziellen isländischen Zeitgefühl zu tun?«
»Na ja, wie lange ist zum Beispiel die Französische
Revolution her? Mehr als dreihundert Jahre. In Frankreich spricht
kein Mensch mehr darüber, aber für uns ist dieser
Vulkanausbruch immer noch ein Riesenthema. Und die Sagas erst. Wir
leben damit. Im Alltag. Verstehst du?«
»Nein. Wie lebt man im Alltag mit einer Saga?«
»Genau wie mit Elfen und Geistern.Abwechslungsreich.«
Liv lacht. »Erzähl mir nicht, du glaubst an Elfen und
Geister.«
»Die Frage ist typisch für Ausländer. Sie wird mir
ständig gestellt, und ich beantworte sie nie. Du wirst auch
unter den jungen Leuten kaum einen Isländer finden, der dir laut
und deutlich ins Gesicht sagt, er glaube nicht an Geister oder Elfen.
Schon gar nicht an Bord eines isländischen Flugzeugs.«
»Komm, darauf trinken wir noch einen.« Sie winkt der
Flugbegleiterin und kauft zwei weitere Wodka.Alkohol ist im
Reisepreis nicht inbegriffen.
»Weißt du,was peinlich ist?«, fragt sie,nachdem
sie getrunken haben. Wie sie an ihrer Aussprache merkt, sollte sie
dringend auf Wasser umsteigen.
»Was?«
»Du sprichst so phantastisch deutsch, und ich wusste noch
nicht einmal, dass die Isländer überhaupt eine eigene
Sprache haben. Ich dachte, ihr redet wahrscheinlich dänisch dort
oben.«
Geir verzieht das Gesicht, als hätte sie ihm die Faust in den
Magen gerammt. »Ein schlimmer Fauxpas.«
»Ja, ja, schon klar. Tut mir aufrichtig leid. Bitte vergiss
es. Ich bin bloß eine ignorante Deutsche, die Zeit ihres Lebens
geglaubt hat, Schiller und Goethe hätten die Literatur erfunden
und Leute wie Rousseau und Montesquieu die Französische
Revolution. Ich habe die Macht der isländischen Naturwunder und
der dazugehörigen Spukgestalten total unterschätzt.«
Er grinst und reibt sich die Bartstoppeln. »Aber jetzt weißt
du Bescheid?«
»Jetzt weiß ich Bescheid.«
»Komm, Liv«, sagt er. »Darauf trinken wir noch
einen.«
Kurz vor der Ankunft auf dem Leifur EirÃksson Flughafen in
KeflavÃk. Liv hat den Rest von Geirs Vortrag verschlafen, und
er weckt sie, damit sie den Landeanflug nicht versäumt. Keine
sehr gute Idee. Es gibt Turbulenzen, die Maschine schaukelt wie ein
Schiff im Sturm. Liv fühlt sich sofort seekrank und greift nach
der Papiertüte in der Sitztasche – falls es zum
Schlimmsten kommen sollte. Sie verträgt Wodka sonst gut, auch in
größeren Mengen, aber die Kombination mit dem
Kartoffelsalat und dem Hot-Dog-Frühstück macht ihr zu
schaffen. Als Geir ihre Unpässlichkeit bemerkt, bietet er ihr
ein Pfefferminzbonbon an, das sie verschmäht. Er lässt sich
nicht davon abhalten, jede zweite Sekunde aus dem Fenster zu deuten,
um ihr irgendetwas zu zeigen: die Bucht von ReykjavÃk,die neue
Autobahn vom Flughafen in die Stadt, irgendeinen See oder Gletscher
mit unaussprechlichem Namen. Sie kann nichts erkennen. Was Liv sieht:
schwarzes Gestein und weißes Licht, hell wie ein am Himmel
festgefrorener Blitz.
Nach der Landung stürmen die isländischen Passagiere wie
eine Horde Fußballfans den Duty Free Shop gleich neben der
Gepäckausgabe und kaufen literweise Spirituosen. Liv marschiert
schnurstracks zu den Waschräumen, wo sie sich übergibt.
Danach ersteht sie eine Sonnenbrille,denn die fehlt in ihrem Gepäck.
Stattdessen das verdammte Messer. Plötzlich die Sorge, es könnte
bei der Einreise deswegen Probleme geben. Da Island zu den
Unterzeichnern des Schengener Abkommens gehört, gibt es
keinerlei Ausweiskontrollen, jeder Reisende darf seine Koffer vom
Band nehmen und gehen. Fast jeder. Einige werden zur Stichprobe
gewunken und müssen ihre Habseligkeiten vom Zoll durchsuchen
lassen. Für den Flug Nummer FI213 von Kopenhagen fällt die
Wahl auf Liv. Es mag an der Brille liegen.
Als der junge Beamte den Koffer in den Scanner schiebt, ist Liv
sehr nervös. Ist es heutzutage überhaupt erlaubt, mit
irgendeiner Art von Klinge zu reisen? Nicht im Handgepäck, klar,
aber
Weitere Kostenlose Bücher