Wiedergaenger
zur
Linken, den Nordatlantik, und ihr ist nicht klar, ob das Meer bloß
deswegen so kalt und unbezwingbar erscheint, weil sie weiß, wo
sie sich befindet.Ab und zu spritzt Gischt auf, die Küste ist
felsig. Rechts der Straße ein Gebirgszug mit ausgedehnten
Gipfelebenen und schroffen Steilhängen. Die typisch isländischen
Tafelberge aus Basalt sind ihr mittlerweile vertraut, ebenso das Moos
an den Hängen, intensiv grün, die Schotterhalden und die
teilweise mächtigen Gesteinsbrocken im Tal. Steinlawinen. Man
sieht noch den Weg, den sie genommen haben. Mittendrin steht ein
Haus, und während Fallwinde so sehr am Wagen rütteln, dass
Liv Mühe hat, nicht ins Schlingern zu geraten, überlegt
sie, wie viel Gottvertrauen es braucht, um ausgerechnet an so einem
Ort zu siedeln.
Wie am Vortag wird sie von Sehnsucht befallen, diesmal erkennt
sie, es ist Sehnsucht nach Spiritualität. Sie dachte, sie sei
nicht der Typ dafür, aber egal: Warum sich nicht ab und zu nach
etwas verzehren, das anderen besser zu Gesicht steht? So wie manche
Frauen sich lange Haare wünschen oder hochhackige Schuhe, obwohl
sie wissen, dass sie nicht darauflaufen können. Ihre
Weltanschauung, rührend um Rationalität bemüht, ist
nicht nur für andere, sondern auch für sie selbst
gelegentlich ermüdend und wird der Realität einer
Landschaft wie dieser ebenso wenig gerecht wie das, was sie ihr im
Religionsunterricht über die Schöpfung erzählt haben.
Beschämt stellt Liv fest, wie beharrlich ihre Gedanken um das
eigene Befinden kreisen statt um Tönges, was angemessener wäre,
und nicht zum ersten Mal seit ihrer Ankunft auf der Insel hat sie ein
schlechtes Gewissen, als würde sie ihn verraten und ihm damit
nachträglich noch einen weiteren Grund liefern, sich abgesetzt
zu haben. Es ist, wie der Polizist neulich in Lübeck sagte: »Was
Sie tun, tun Sie für sich. Damit Sie sich besser fühlen.«
Aber wenn das stimmt, warum funktioniert es dann nicht
wenigstens?Anfangs war alles beherrschbar, mittlerweile fühlt
sie sich schlechter und schlechter, ist im Begriff, sich ganz zu
verlieren. Ihr Großvater ist gegangen – und hat mehr von
ihr mitgenommen, als sie verschmerzen kann.
Die Straße wendet sich vom Meer ab und steigt nach einer
Weile langsam an. Eine baumlose nordische Ödnis: Weiden, das
Gras winterblass und gelblich braun, außer in geschützten
Senken, wo es bereits grünt, weiter entfernt das Weiß
eines Gletschers und noch mehr Berge. Wie riesenhafte Wesen aus einem
anderen Erdzeitalter, Dinosaurier, zum Schlummern eingerollt, oder
Urzeitwale, gestrandet und versteinert.Ansonsten Leere. Mittlerweile
ist Mittag, pausenlos Sonnenschein seit der Abfahrt, keine Wolke am
Himmel. Liv gibt der Islandhelligkeit einen Namen: Kristalllicht.
Unfassbar, wie weit hier der Blick geht, eine Atmosphäre so
rein, als feiere die Erde ihren allerersten Tag. Wunderschön
eigentlich, das registriert Liv durchaus. Trotzdem bekommt sie
allmählich Beklemmungen. Das Land, von einer Melancholie
beseelt, die sich schnell überträgt, ist erschreckend dünn
besiedelt, nur zu knapp zwanzig Prozent, wie sie gelesen hat. Es
kommt ihr hoch gegriffen vor. Mit jedem Kilometer zermürbt die
Einsamkeit sie mehr, als würde die Reibung der Reifen auf dem
grobkörnigen Asphalt ihre Nerven freilegen. Lange Fahrten allein
im Auto ist sie ja gewohnt:Auf deutschen Autobahnen, meist im dichten
Verkehr, der ihre Aufmerksamkeit verlangt, bemüht, sich
möglichst geschickt ihren Weg durch das Gewimmel zu bahnen, um
die vom Navigationssystem prognostizierte Fahrzeit zu unterbieten.
Wie bei einem Computerspiel. Hier wird jeder Gegenverkehr zum
Ereignis, und während sie sonst meist zu schnell unterwegs ist,
ertappt sie sich immer öfter dabei, weit unterhalb der
zulässigen Höchstgeschwindigkeit von neunzig
Stundenkilometern vor sich hinzukriechen.
Sie schaltet das Radio ein. Zwei-Uhr-Nachrichten auf Isländisch,
Liv versteht kaum ein Wort, abgesehen von Ortsangaben, aber die
Stimme des Sprechers klingt nicht nach großen Neuigkeiten. Die
Welt dreht sich weiter in Washington, Paris und Islamabad. Ohne sie.
Nach den Meldungen kommt Musik: eine heimische Punkband. Liv
schaltet das Radio aus und beschleunigt auf hundertdreißig.
Raum und Zeit dehnen sich aus, dem Anschein nach kommt sie kein
bisschen voran, der Horizont bleibt unverändert,
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