Wiedersehen in Hannesford Court - Roman
Thema.
»Mir fällt gerade etwas ein, das Sie beim Frühstück erwähnt haben. Weshalb konnten Sie Julian Trevelyan eigentlich nicht leiden?«
»Er war ein Mann, den seine eigenen Dienstboten nicht mochten«, erwiderte sie, ohne zu zögern. Ich wartete auf eine nähere Erklärung, doch sie schien stattdessen Kraft für weitere Ausführungen über die Entwicklung der Frau zu sammeln.
»Meinen Sie, er wäre ein schlechter Ehemann gewesen?«
»Nun, das hängt wohl davon ab, was man von einem Ehemann erwartet. Er war sehr reich, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er Margot auf Dauer eine angenehme und abwechslungsreiche Ehe geboten hätte.«
»Und was ist mit Harry Stansbury? Was haben Sie von ihm gehalten?«
»Habe ihn kaum gekannt. Kein großer Denker, würde ich sagen. Wir waren nicht gerade befreundet. Weshalb fragen Sie?«
Darauf antwortete ich nicht. In vier Tagen sollte ich bei Harrys Gedenkgottesdienst sprechen und hatte immer noch nicht die leiseste Ahnung, was ich sagen sollte.
Violet blieb bei mir, bis es elf schlug und ihr einfiel, dass sie Mrs Rolleston einen Besuch versprochen hatte. Ich blieb allein mit den Notizen des Professors und studierte sie zerstreut, bis sich ein volltönendes Motorengeräusch näherte. Als ich ans Fenster trat, sah ich, wie Anne Gregory aus dem Daimler stieg. Lady Stansbury hatte wohl den Wagen geschickt, um sicherzugehen, dass Anne auch wirklich kommen würde.
Als ich ihre kleine Gestalt erblickte, fragte ich mich, ob Violet mit ihren Worten über Gouvernanten und Gesellschafterinnen recht hatte. Hatte Annes Position in Hannesford sie um ihre Heiratsaussichten gebracht? Darüber hatte ich nie nachgedacht. Gewiss, sie hatte in Kreisen verkehrt, in denen sie oft übersehen wurde; die Julian Trevelyans dieser Welt schenkten den Gesellschafterinnen ihrer Gastgeberinnen keine große Beachtung. Und Margot überstrahlte ohnehin alle anderen Frauen. Doch als Anne jetzt über den Kies kam, freute ich mich, sie zu sehen. Ich hatte mich in ihrer Gesellschaft immer wohlgefühlt, man konnte zwanglos mit ihr reden. Früher hatte ich mit allen zwanglos geredet, heute ging das nur noch mit Anne. Daher überraschte es mich nicht, dass Lady Stansbury sie ungern gehen ließ.
Ich wandte mich wieder den Unterlagen des Professors zu, konnte mich aber nicht recht konzentrieren. Die Notizen drehten sich meist um die Herkunft der Schmetterlinge – wo in der Grafschaft oder im Land das jeweilige Exemplar gesammelt worden war. Wenn er der Ansicht war, dass ein Exemplar aus Hannesford stammte, hatte er versucht, seine Theorie durch eigene Beobachtungen zu untermauern, und in diesen Notizen fand ich Dinge, die vertraut klangen.
Polyommatus icarus – Gemeiner Bläuling. Hannesford. Wiese südlich des Sees, 26. Juni 1914.
In einem dieser Einträge erwähnte er auch mich:
Anthocharis cardamines – Aurorafalter. Südwestlich von Hannesford. Unter Apfelbäumen über der Schlucht des River Hanna, 23. Juni 1914, bei Spaziergang mit TA.
Ich konnte mich an den Ausflug erinnern. Ich hatte dem Professor den Weg zu den Ruinen der Kapelle gezeigt, die einige Meilen außerhalb des Dorfes Hannesford lagen. Es war ein angenehmer Nachmittag gewesen, damals, als ein Engländer und ein Deutscher noch gemeinsam spazieren gehen und sich über rundblättrige Glockenblumen und steinerne Rundbögen unterhalten konnten. Der einzige Mensch, dem wir begegneten, war Harry Stansbury, der den jungen Hund seines Bruders ausführte. Wir trafen ihn im Wald unterhalb der Kapelle, wo sich der Weg am Fluss entlangschlängelt. Harry kam uns entgegen, er war auf dem Rückweg nach Hannesford. Es war ungewöhnlich, ihn ohne seine Freunde anzutreffen – im Allgemeinen war er nicht gern allein –, doch ich weiß noch, wie entspannt er wirkte, ganz und gar zufrieden in dieser schönen Umgebung an diesem schönen Tag. Nachdem ich von seinem Tod erfahren hatte, dachte ich oft an diese Begegnung im Wald. Vielleicht war es am besten, ihn so in Erinnerung zu behalten.
Die verfallene Kapelle lag abgeschieden an einer Hügelflanke, ein verschwiegener Ort, an dem sich die Sonne und die Stille fingen. Zwischen den niedrigen Mauern wuchs Ackerklee, und das Gras war so dicht, dass man weich darauf saß. Von dieser Stelle aus blickte man über die Baumwipfel hinüber zum Moor, und ich hatte den einen oder anderen Tag hier verbracht, lesend, rauchend und ohne einer Menschenseele zu begegnen.
Doch an jenem Tag war die Kapelle nicht
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