Wiedersehen in Harry's Bar
die offene Piazza und bogen in eine noch schmalere Gasse ein. Vor uns hing ein beleuchtetes Schild im Dämmerlicht, das mit geschwungenen Buchstaben Trattoria Sacro e Profano verkündete. Sogar mit meinem nichtvorhandenen Italienisch konnte ich mir das übersetzen: das Wirtshaus des Heiligen und des Profanen.
Gobi blieb stehen und schaute nach hinten in Richtung Kirche, dann wieder auf den Eingang des Restaurants. Der gemauerte Eingang mit den Säulen links und rechts ließ die Trattoria selbst wie eine kleine Kathedrale aussehen. Gleich neben der Tür glänzte ein Zigarettenautomat matt im Regen.
»Weißt du überhaupt, wo wir hier sind?«, flüsterte ich.
Sie gab mir keine Antwort. Ich dachte an New York, wo sie ihren BlackBerry mit dem Stadtplan und dem eingebauten GPS benutzt hatte; davon war jetzt keine Rede. Bis jetzt hatte ich angenommen, dass sie sich in Venedig auskannte, aber jetzt schien sie ihrer Sache nicht mehr ganz so sicher zu sein.
»Warte mal – haben wir uns etwa verlaufen?«
Sie sah mich ausdruckslos an, und für den Bruchteil einerSekunde hatte ich den Eindruck, als würde sie mich überhaupt nicht erkennen. Dann sah ich etwas unter ihrer Nase, einen dunklen Fleck, der nach unten über die Oberlippe rann.
»Du blutest«, sagte ich. Was irgendwie komisch war, wenn man bedachte, dass uns in den letzten zehn Minuten niemand angegriffen hatte. Gobi legte den Zeigefinger an die Oberlippe und wischte ihn an ihrer Jacke ab.
»Das ist nichts.« Aber sie hörte sich ein bisschen benommen und distanziert an, als wäre sie nicht ganz bei sich, und als sie mich wieder ansah, hatte ich wieder den Eindruck, als wüsste sie nicht, wer ich war.
So hatte ich sie schon einmal gesehen, damals in New York. Damals war sie als Austauschschülerin in unsere Familie gekommen und hatte uns erzählt, sie leide an Epilepsie. Es hielt sie davon ab, den Führerschein zu machen, und ab und zu hatte sie einen Anfall. Keinen von den echt krassen, bei denen man seine Zunge verschluckte, eher so kleine Ohnmachten. Deshalb dachte ich zuerst, sie würde mir gleich wegkippen und einen Filmriss kriegen.
Aber sie hat dabei noch nie so geblutet, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf. Das war neu. Ich war mir ziemlich sicher, dass man bei epileptischen Anfällen kein Nasenbluten bekam.
Es spielte keine Rolle. Die Muskeln meiner Beine machten sich bereit. Wenn sie wirklich gleich wegtrat, würde ich schleunigst die Fliege machen.
Aber Gobi tupfte sich lediglich das restliche Blut mit dem Handrücken von der Lippe, packte den Türgriff und schob mich in die Trattoria des Heiligen und des Profanen.
13
»Church of the Poison Mind«
– Culture Club
Drinnen roch es nach Sägemehl und feuchtem Marmor wie im Keller einer Renaissance-Kathedrale. Schattenhafte Gestalten hockten an Tischen beieinander und nippten bei Kerzenschein an Weingläsern. Zu dieser späten Stunde konnte es sich nur, wie ich annahm, um Einheimische handeln oder um Touristen, die sich verlaufen hatten. Das einzig Moderne war der verwaiste Video-Glücksspielautomat neben der Tür mit einem aufgeklebten handgeschriebenen Zettel, auf dem vermutlich »AUSSER BETRIEB« stand.
»Rühr dich nicht«, sagte Gobi und ging auf den Tresen zu. Sie hörte sich schon wieder ganz nach Gobi an. Meine Augen gewöhnten sich gerade an diese finstere, unterirdische Dunkelheit. Ich sah mir wieder die Gestalten an, die rings um uns an den Tischen saßen, und als ich erkannte, um wen es sich handelte, spürte ich, wie sich eine kalte, gummibehandschuhte Hand auf meinen Magen drückte.
Der gesamte Raum war voller Priester.
Ich ging zur Bar, stellte mich so dicht wie möglich neben Gobi und neigte mich zu ihrem Ohr. »Was hast du vor? Wir sind in einer Priester-Bar. «
»Jetzt verlier bloß nicht die Nerven, Perry«, sagte sie, ohne den Kopf zu drehen und ohne die Lippen zu bewegen. »Dreh dich einfach langsam um und warte.«
Das tat ich und überlegte, wie lange ich wohl brauchte,um bis zur Tür zu kommen. Die Priester saßen an ihren Tischen, hockten schweigend in der Dunkelheit beisammen wie ein Schwarm Krähen. Dicke, dünne, alte, junge – sie mussten aus der Kathedrale auf der anderen Seite der Piazza hierhergekommen sein. Hingen sie hier immer nach der Messe herum? Beim flüchtigen Nachzählen kam ich auf acht oder zehn von ihnen, die aßen oder miteinander flüsterten, Wein tranken oder Zeitung lasen. Das Kerzenlicht spiegelte sich in ihren Brillen. Einige hatten
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