Wiedersehen in Stormy Meadows
stammt. Eine unglaublich zierliche Frau, sie erinnert mich an einen Spatz. Sie unterhält sich mit Cas.
»Wusstest du, dass alle Tiere um Mitternacht niederknien sollen, um Christi Geburt zu huldigen?«
Cassie sieht zum Kamin, in dessen orangerotem Feuerschein der alte Shep und Jasper tief und fest schlafen.
»Na ja, niederknien tun sie nicht gerade –, aber sie sehen ziemlich ergeben aus – zählt das auch?«
Hank sieht auf die Uhr. Er hustet unauffällig und nickt in Richtung der alten deutschen Wanduhr, deren Messingpendel rhythmisch hin und her schwingt. Ein bisschen wie Laura auf ihrem Barhocker … Wir folgen seinem Blick, und schon ertönt der erste mitternächtliche Glockenschlag.
»Fröhliche Weihnachten!«, wünscht Orlaithe, fällt Hank um den Hals und schmatzt ihm einen dicken Kuss auf die Stirn.
Ich sehe mich um. Nur strahlende Gesichter. Wieder empfinde ich tiefe Dankbarkeit dafür, dass ich dieses Jahr nicht alleine bin, sondern umgeben von Liebe und Herzenswärme.
Ich will an Rob denken, will herausfinden, ob der Schmerz ein wenig nachgelassen hat. Doch während meine Mutter, Cas und meine neuen Freunde sich alle nacheinander in den Arm nehmen, muss ich erstaunt feststellen, dass meine Gedanken nicht zu Rob wandern, sondern zu Connor und der Sorge, ob er wohl heil in London angekommen ist.
10
A m Morgen des ersten Weihnachtstages wache ich auf und habe einen Moment lang das Gefühl, Rob sei bei mir. Wenn ich die Augen aufmache, wird der Zauber verfliegen. Reglos bleibe ich liegen. Ich kann seine Arme um mich spüren, seine Wange an meinem Haar. Er hat versprochen, immer für mich da zu sein.
»Fröhliche Weihnachten!«, ertönt da ein zweistimmiger Frauenchor und reißt mich aus diesem Moment.
Laura kommt in mein Zimmer, dicht gefolgt von Cassie. Letztere rast lächelnd auf mein Bett zu, reißt mir die Decke weg, packt meine Hände, zerrt mich auf die Füße und sagt ganz aufgeregt: »Guck doch nur, Natalie, guck!«
Cassie hat die Augen weit aufgerissen und ganz rote Wangen. Ich stolpere hinter ihr her zum Fenster, wo Laura bereits dabei ist, die geblümten Vorhänge zur Seite zu ziehen. Ich bin wie geblendet.
»Es schneit!« Cassie ist völlig aus dem Häuschen. »Es ist Weihnachten, und es schneit!«
Ich sehe hinaus in die weiße Welt vor meinem Fenster. Meine Pupillen ziehen sich auf Minimalgröße zusammen. Große weiße Schneeflocken fallen schwer, weich und lautlos zu Boden und bedecken alles, so weit das Auge reicht. Stalldächer, Felder, Bäume, Hecken – alles ist weiß. Nur das Meer nicht, aber auch das hat seine sonst so dramatische Färbung eingetauscht gegen ein gedämpftes Grau, das fast nahtlos in das Grau des Himmels übergeht.
»Weiße Weihnachten«, seufzt Laura und fügt dann mit dem für sie typischen Humor hinzu: »Hätte ich doch bloß eine Wette abgeschlossen.«
Ich sehe die beiden Gesichter rechts und links von mir an. Beide strahlen angesichts der weißen Weihnacht und der damit verbundenen Freude und Verheißung. Und ich hatte gedacht, ohne Rob würde Weihnachten bedeutungslos und leer werden.
»Ich habe mir immer so gewünscht, dass es an Weihnachten schneit«, murmelt Cas mehr zu sich selbst denn an uns gerichtet. »Das ist mein erstes Geschenk.«
Sie kann es auch spüren. Dass er hier ist. Dass er irgendwie die Finger im Spiel hat.
Cassie hat Laura das nächste Stichwort geliefert.
»Geschenk … Da sagst du was! Los, an die Geschenke!«, ruft sie, aber dann schiebt sie zu meiner Überraschung hinterher: »Aber erst müssen wir unsere Arbeiten erledigen. Die Tiere lernen nicht auf einmal, sich selbst zu versorgen, nur weil Weihnachten ist. Komm, Nattie, beeil dich. Spring unter die Dusche und zieh dir was an. Je schneller wir fertig sind, desto schneller können wir unsere Geschenke auspacken!«
Als ich herunterkomme, ist im Erdgeschoss die Festbeleuchtung an, der Ofen bollert, und die Flammen im Kamin züngeln bis in den Schornstein. Die Hintertür steht sperrangelweit offen. Laura und Cas sind schon draußen. Sie haben sich dick eingepackt mit bis über die Ohren gezogenen Wollmützen, Schals und warmen pinkfarbenen Strümpfen, die oben aus Lauras Gummistiefeln hervorlugen.
Cas ist gerade dabei, Chances Jutedecke gegen eine der Witterung etwas angemessenere Weidedecke auszutauschen, damit er ein paar Stunden auf die Koppel kann. Reiten wird sie ihn heute nicht. Laura versucht, mit einem Eimer Mais die Enten aus ihrem Verschlag zu locken.
Der
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