Wiedersehen in Stormy Meadows
still. Sicher denkt sie viel an ihren Vater, wie ich auch.
Gemeinsam erledigen wir all das, was erledigt werden muss: Vormittags räumen wir auf, putzen und füttern die Tiere, nachmittags bereiten wir das Weihnachtsessen für den nächsten Tag vor.
Blassrosa, rund und nackt nimmt Gertrude die gesamte untere Hälfte des Kühlschrankes ein. Ich hätte eigentlich gedacht, dass es mir Spaß machen würde, ein Vieh zu stopfen, das mal meinen nackten Hintern zum Frühstück verspeisen wollte. Doch weit gefehlt. Ich weiß, dass dieser gekühlte, leblose Kadaver mal ein charakterstarkes Tier war. Also überlasse ich das Stopfen Laura und wasche und putze stattdessen gefühlte achtzehn Tonnen Rosenkohl. Cas schält Kartoffeln.
»Gehen wir heute Abend ins Ship?«, fragt Cas hoffnungsvoll, als sie die geschälten und geschnittenen Kartoffeln in eine Schüssel mit kaltem Wasser legt und in den Kühlschrank stellt.
Laura schüttelt den Kopf. »Nein, das hatte ich eigentlich nicht vor.«
Cassie ist offenkundig enttäuscht. »Aber da steigt heute eine kleine Party. Orlaithe backt schon die ganze Woche Mince Pies, und Denzel will Klavier spielen.«
»Na, dann müssen wir da natürlich unbedingt hin«, witzele ich und zwinkere Cas zu. Dann wende ich mich an Laura. »Was sagst du? Klingt doch gut, oder?«
»Also, eigentlich wollte ich einfach gemütlich mit euch zu Hause sein … Ihr wisst schon, so ein richtig schöner altmodischer Familienabend mit Spielen und Glühwein …« Sie verstummt, als sie unsere langen Gesichter sieht. »Okay, okay, überredet. Wir gehen ins Ship.«
Das erste bekannte Gesicht, das uns im Pub begegnet, ist Luke. Heute ungewöhnlich schick in grauen Cordhosen und dunkelblauem Hemd.
»Ach, deshalb wollte Cassie unbedingt hierherkommen«, flüstert Laura mir zu, als Cas gezielt auf ihn und den Billardtisch zusteuert.
Orlaithe trägt ein enges rotes Chiffonkleid und einen spitzen Party-Hut mit einem kleinen Mistelzweig daran. Sie begrüßt jeden mit einem Glas Sherry und einem Kuss mit ihren karminrot geschminkten Lippen.
»Laura! Nattie! Wie schön!«, ruft sie erfreut aus, als sie uns sieht. »Die erste Runde geht aufs Haus«, sagt sie und hält uns ein silbernes Tablett mit Sherrygläsern unter die Nase.
»Nein, danke, ich muss noch fahren.«
»Prima – dann kann ich ja zwei haben!«, freut Laura sich.
Die Pubgäste sind in Feierstimmung. Hank hat sich statt der üblichen Cowboykrawatte eine Lamettagirlande um den Hals gebunden. Der kleine, glatzköpfige Denzel sitzt bereits am Klavier und spielt eine weichgespülte Version von »Winter Wonderland«, wobei er unentwegt so breit grinst, dass die lückenhafte Zahnreihe aus seinem wettergegerbten Gesicht strahlt.
Ich sehe Laura an, dass sie hofft, auch Charles zu treffen. Sie sieht sich unter den Gästen um, kann ihn aber nicht entdecken. Die Enttäuschung steht ihr ins Gesicht geschrieben, doch dann auch wieder die Entschlossenheit, sich trotzdem zu amüsieren. Sie folgt Orlaithe und stellt die beiden Gläser, die sie bereits geleert hat, auf dem Tresen ab. Dann bestellt sie sich nicht ohne einen gewissen Trotz noch etwas zu trinken.
Meine Mutter ist wirklich bewundernswert. So stark, in so vielerlei Hinsicht … Ganz anders, als ich sie in Erinnerung hatte. Menschen ändern sich eben mit der Zeit.
Ich denke an den Heiligen Abend vor einem Jahr zurück. Da saß ich um sieben Uhr noch im Büro und machte mir vor, dass ich dort gebraucht würde. Abgesehen von den Sicherheitsleuten war ich die Einzige im gesamten Gebäude, alle anderen waren längst zu Hause bei ihren Familien, bei ihren Weihnachtstraditionen, bei ihrem Fest der Liebe.
An meine Mutter habe ich herzlich wenig gedacht. Wo sie war, mit wem sie zusammen war – das interessierte mich nicht. Mir wird warm ums Herz bei der Vorstellung, dass sie höchstwahrscheinlich hier war, zusammen mit diesen wunderbaren Menschen. Und obwohl ich Rob entsetzlich vermisse, obwohl ich traurig bin, Angst habe und sein Verlust immer noch wehtut, fühle ich mich irgendwie geehrt, dass ich dieses Jahr auch hier sein darf.
»Hi.« Connors unverkennbare Stimme holt mich zurück in die Gegenwart.
»Hallo«, antworte ich leise und versuche, möglichst authentisch zu lächeln.
»Alles in Ordnung?«
Ich nicke.
»Du siehst traurig aus. Fehlen dir die Lichter und die Kultur der Großstadt?«
Ich schüttle den Kopf. »Ganz im Gegenteil, ob du’s glaubst oder nicht. Und außerdem gibt es hier ja auch
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