Wiedersehen in Stormy Meadows
Gürtel zu fassen kriegst, dann schaffst du’s über die Kante.«
»Nein, das schaffe ich nicht.«
»Doch, du schaffst das.«
Sie schließt die Augen.
»Du kannst das schaffen, ich weiß es«, beschwöre ich sie, als ihr linker Fuß von der schmalen Felskante abrutscht.
»Nein, ich schaff das nicht.«
»Du musst, Cas. Keine Angst, ich lasse dich nicht los, versprochen. Ich helfe dir.« Gar nicht so einfach, nach außen ruhig und beherrscht zu wirken, wenn man innerlich in heller Panik ist. Ich sehe ihr tief in die Augen. »Bitte. Vertrau mir.«
Sie zögert kurz, doch dann trifft sie offenbar eine Entscheidung. Mit aller Willenskraft löst sie die Finger ihrer rechten Hand von einem kleinen Felsen, an dem sie sich festgeklammert hatte.
Ich mobilisiere sämtliche Kräfte, als sie meinen Gürtel packt und sich daran über die Kante zieht, bis sie meine Hand loslässt und sich stattdessen an einen Ast des Baumes klammert. Kaum zu glauben, wie schwer eine sonst so zierliche Person plötzlich sein kann. Ich habe das Gefühl, von ihr erdrückt zu werden. Doch als sie es geschafft hat, lässt sie sich neben mich rollen, reicht mir die Hand und hilft mir, ebenfalls wieder ganz auf festen Boden zu kommen.
Zitternd liegen wir nebeneinander. Cas hält immer noch meine Hand.
Dann stehen wir langsam auf.
»Danke, Nat, vielen tausend Dank. Es tut mir so leid. Danke.« Cas schluckt und schlägt sich die Hand vor den Mund, als ihr aufgeht, was da gerade fast passiert wäre.
»Untersteh dich, jemals wieder vor mir wegzulaufen!«, schreie ich sie an, bevor ich sie bei den Schultern packe, an mich ziehe und so fest an mich drücke, dass ich ihr Herz wie wild gegen den Brustkorb schlagen spüre.
»Ich will dich nicht auch noch verlieren, Cas«, murmele ich ihr ins Haar. »Ich kann dich nicht auch verlieren.«
Langsam hebt sie die Arme und schlingt sie fest um mich. Dann weint sie bitterlich an meiner Schulter.
»Es tut mir so leid«, murmelt sie. »Es tut mir so unendlich leid.«
Keine von uns will die andere loslassen, und so liegen wir uns eine halbe Ewigkeit in den Armen, bis es blitzt und kurz darauf heftig donnert und es nicht mehr Bindfäden, sondern Sturzbäche regnet.
Wir hören Stimmen. Aufgeregte Stimmen. Sie rufen unsere Namen.
Meine Mutter. Luke ruft Cas.
Connor ruft: »Natalie!«
Wir lösen uns aus unserer Umklammerung.
»Wir sind hier«, antworte ich, doch der Wind trägt jeden Laut mit sich übers Meer. »Lass uns mal besser zurückgehen«, schlage ich Cassie vor.
Sie nickt und reicht mir die Hand. Ich trete einen Schritt auf sie zu, und in dem Moment gibt der Boden unter meinem linken Fuß nach. Es ist genau die Stelle, an der Cassie eben abgestürzt war. Der Grund ist einfach instabil. Er bricht unter mir weg, und ich falle.
Ich erlebe den Schock des freien Falls. Ich pralle auf, aber zum Glück nicht auf einen wellenumtosten Felsen dreißig Meter weiter unten, sondern auf einen Felsvorsprung keine vier Meter unter mir. Ich glaube, so in etwa müsste es sich anfühlen, von einem Auto angefahren zu werden. Der Aufschlag ist so heftig, dass noch einmal alle Luft aus meinen Lungen gepresst wird.
Granit ist verdammt hart.
In meinem Körper kracht es hör- und spürbar. Ich japse vor Schmerzen wie ein Fisch auf dem Trockenen. Dann schlägt mein Kopf auf. Ich weiß nicht, ob der grelle Lichtblitz, den ich sehe, vom Gewitter kommt oder von den unmenschlichen Schmerzen. In jedem Fall ist er das Letzte, was ich sehe.
Das Letzte, was ich höre, ist Cassie, die hysterisch »Natalie!« schreit.
Ich liege zu Hause im Bett, Robs warme Arme halten mich, sein Körper schmiegt sich von hinten an meinen wie eine zweite Haut, wie eine Schutzhülle. Ich spüre seinen Atem an meinem Hals, ich höre seine sanfte Stimme, die so voller Liebe ist, während er immer wieder meinen Namen sagt.
»Natalie.«
»Nattie, kannst du mich hören?«
»Natalie!«
»Vorsichtig.«
»Langsam.«
»Rob?« Mein Mund ist wie ausgetrocknet, keinen Laut bringt er hervor.
»Schsch. Ganz ruhig. Es ist alles gut, Nattie. Wir haben dich gleich. Bleib einfach ganz ruhig liegen. Nicht bewegen.«
Starke Arme legen sich um mich, halten mich … eine sanfte, vertraute Stimme. »Connor?«
»Schsch.«
Dann wird es schwarz um mich.
Nach und nach begreife ich, dass ich nicht allein bin. Ich höre Flüstern um mich herum. Als ich die Augen öffne, gerate ich in Panik. Ich kann nichts sehen! Alles um mich ist weiß.
Doch dann sehe ich
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