Wiedersehen in Stormy Meadows
durchgemacht, in der ich überzeugt war, er sei am Telefon, wenn es klingelte. Es war so seltsam: Ich wusste natürlich ganz genau, dass er unmöglich dran sein konnte, aber wenn ich dann nicht seine, sondern eine andere Stimme am anderen Ende hörte, war ich immer wieder aufs Neue bitter enttäuscht.
Meine Freunde rufen mich inzwischen meistens auf dem Handy an, damit ich gleich sehen kann, wer dran ist.
Ich strecke die Hand unter der Decke hervor und taste auf dem Nachttisch nach dem Hörer.
»Hallo?«, krächze ich.
»Natalie?«
Schlagartig bin ich hellwach und sitze kerzengerade im Bett. Meine Mutter. Seit dem Begräbnis habe ich sie nicht mehr gesehen. Wir haben uns ein paarmal ziemlich steif unterhalten, denn wir wussten beide nicht, was wir sagen sollten. Sie hat wirklich versucht, mir zu helfen, aber ich muss leider gestehen, dass ich sie nicht an mich rangelassen habe, wie immer. Sie hat mich mehrmals zu sich eingeladen, doch ich habe jedes Mal abgelehnt. Auch ihre Angebote, zu mir nach London zu kommen, habe ich ausgeschlagen. Ich habe ihr nie etwas anvertraut, dazu taugte unsere Beziehung nicht. Nachdem mein Vater gestorben war, hatten wir eigentlich gar keine nennenswerte Beziehung mehr.
Damals fühlte ich mich, als hätte ich beide Eltern gleichzeitig verloren, so radikal hatte meine Mutter sich verändert. Sie war zwar immer da, aber ich hatte nie das Gefühl, dass sie wirklich anwesend war.
Jetzt fragt sie mich, wie es mir geht, und bohrt behutsam nach, ohne meine üblichen einsilbigen Antworten zu akzeptieren. Ihre Stimme klingt so gelassen und beruhigend, dass ich ihr plötzlich mein Herz ausschütte. Sie kriegt die gesamte Cassie-Geschichte zu hören, und ich empfinde es als tröstlich, dass sie lacht, als ich ihr von der Porno-Website berichte.
»Das war auch meine erste Reaktion«, sage ich. »Ich bin froh, dass ich nicht die Einzige bin, die das komisch findet.«
»Und jetzt bist du also dazu verdonnert, diese ganze Auszeit lang die böse Stiefmutter zu spielen«, meint Laura. »Da bist du bestimmt total begeistert, was?«
»Ich wette, Cassie ruft gerade der Reihe nach ihre Schulfreundinnen an, um sich irgendwo zum Weihnachtsdinner einzuladen. Ich schätze, sie würde sogar lieber mit Libby Labia ihren Truthahnbraten essen als mit mir, ihrer bösen Stiefmutter.«
Wieder lacht Laura. »Und du, was willst du?«
»Ich will sie über Weihnachten bei mir behalten. Ich bin doch jetzt ihre nächste Verwandte.« Ich seufze.
»Nat, ich möchte dir einen Vorschlag machen. Aber sei bitte ganz ehrlich – wenn du das nicht willst, sag es einfach, ja? Ich verspreche dir, dass ich nicht eingeschnappt bin.«
»Schieß los.«
»Kommt doch beide zu mir nach Cornwall.«
»Zu dir? Über Weihnachten?«
»Ja. Ich hätte euch so gerne hier. Und warum warten? Kommt doch sofort. Du hast ja schon überlegt, was du mit Cassie anfangen sollst, also bring sie mit. Ich würde mich freuen, euch beide hierzuhaben.«
»Wirklich?«
»Ja, natürlich«, antwortet meine Mutter. »Kommt nach Cornwall«, wiederholt sie hartnäckig. »Ich wollte euch sowieso über Weihnachten einladen. Ich war bloß nicht sicher, ob es euch hier gefallen würde. Ein Weihnachten in Cornwall ist im Vergleich zu den Feiertagen in London bestimmt langweilig.«
»Langweilig? Das klingt, als wäre es genau das, was ich im Moment brauche«, antworte ich, ohne nachzudenken.
»Dann ist das also abgemacht? Ihr kommt zu mir?«
»Ja. Ja, danke«, höre ich mich sagen. »Ich denke, wir werden kommen.«
Ich kündige unsere Reise nach Cornwall bei einem Frühstück an, das wir ausnahmsweise gemeinsam einnehmen, schweigend zwar, aber einander gegenüber am Küchentisch. Cassie schält in aller Ruhe eine Orange. Zuerst entfernt sie die dicke äußere Schale, dann zupft sie gewissenhaft jedes Fitzchen Weiß von der Frucht. Anschließend zerteilt sie die Apfelsine in Schnitze und ordnet diese auf ihrem Teller zu einem Muster an, ohne davon zu essen.
Ich muss zugeben, dass ich selbst auch kaum Appetit habe. Geschlagene zehn Minuten schiebe ich einen Löffel voll Müsli in meiner Schüssel herum, während ich versuche, den Mut aufzubringen, mit Cassie zu sprechen. Es ist so schwer, die richtigen Worte zu finden.
Am klügsten ist es wohl, wenn ich so tue, als wäre ich selbst eher abgeneigt. Wenn Cas nämlich glaubt, ich hätte Lust, nach Cornwall zu fahren, wird sie sich vermutlich dagegen sperren, einfach, um mich zu ärgern.
»Meine Mutter
Weitere Kostenlose Bücher