Wiedersehen in Stormy Meadows
schließt die Augen wieder, aber nicht, um weiterzuschlafen, sondern um ein mögliches Gespräch zu vermeiden.
Es ist ermüdend, endlos durch graue Regenschauer zu fahren. Ich kann kaum etwas sehen. Nicht weil der Regen an sich so stark wäre, sondern weil die Autos vor mir ganze Wasserladungen auf die Windschutzscheibe schleudern. Die Scheibenwischer sind zwar hilfreich, aber ihr monotones Hin und Her wirkt einschläfernd.
Ich halte an einem Little Chef an der A30, weil ich unbedingt Koffein brauche. Drinnen lassen Cassie und ich uns auf roten Plastiksitzen nieder und schauen durch ein Fenster mit bonbonfarbenen Vorhängen auf das mit braunem Farn bewachsene Moor hinaus. Tapfer schlürfe ich drei Tassen Kaffee mit zu viel Milch, während Cas den Rand eines Burgers abknabbert. Dabei dreht sie ihn langsam mit beiden Händen vor dem Mund, als wäre er ein Zahnrad in einer komplizierten Maschine.
Ich weiß nicht, ob sie schlichtweg nicht hungrig ist oder ob sie das tut, um mich zu ärgern. Schließlich lasse ich sie an dem grauen Resopaltisch sitzen und reihe mich in die Schlange der nassen, müden Reisenden ein, die ihre Rechnung bezahlen wollen. Nachsichtig lächle ich über das alte Paar im Regenmantel-Partnerlook vor mir in der Schlange. Die beiden haben schon Händchen gehalten, als sie gemeinsam einen Kirschpfannkuchen verzehrten. Auch jetzt lässt der Mann, als er mit der freien Hand mühsam nach der Geldbörse in seiner Gesäßtasche greift, die dürren Finger seiner Frau nicht los.
Cassie lässt ihren angenagten Burger liegen und begibt sich zur Toilette, um sich frisch zu machen. Ihre Haare sind wieder ein wenig gewachsen und schmeicheln ihrem Gesicht. Für eigenhändig geschnittenes Haar steht ihr diese Frisur erstaunlich gut. Vielleicht bedauert sie ja selbst ein wenig, dass sie sich von ihren langen Haaren getrennt hat, auch wenn sie das mir gegenüber niemals zugeben würde.
Als wir uns Land’s End nähern, hört der Regen endlich auf. Die dunkle Wolkendecke über uns reißt auf, und ein schwacher Sonnenstrahl fällt wie ein langer goldener Pfad über das weite Land vor uns.
Stormy Meadows liegt zwischen Land’s End und Cape Cornwall. Eine etwa acht Hektar große Flickendecke aus Wiesen und Feldern gehört dazu, die im Nordwesten vom Atlantik begrenzt wird. Als wir die hohen weißen Windräder erreichen, die den Wind vom Atlantik zur Stromerzeugung nutzen, weiß ich, dass wir fast da sind. Schon allein ihr Anblick verstärkt die Beklommenheit, die sich in meinem Magen eingenistet hat.
Cassie schläft wieder, als ich schließlich von der schmalen Landstraße auf den holprigen Weg abbiege, der sich nach Stormy Meadows hinabschlängelt.
Plötzlich taucht ein Vorderrad tief in ein Schlagloch, und sie wird unsanft wachgerüttelt. Verärgert sieht sie sich um.
»Wo sind wir hier?«, krächzt sie.
»Wir sind da.«
»Wo da?«
»Am Ende der Welt«, antworte ich trocken.
Meine Mutter erwartet uns an dem Gattertor vor der Einfahrt zum Hof. Wieder einmal staune ich, denn ganz gleich, wie lange wir uns nicht gesehen haben, sie scheint sich nicht zu verändern. Früher war sie für mich die schönste Frau der Welt. In den 1970er-Jahren, als die Modewelt von hässlichen Schlaghosen und Kaftanen bestimmt war, ignorierte meine Mutter den letzten Schrei und kleidete sich, in meinen Kinderaugen jedenfalls, wie ein Filmstar. Wie Ava Gardner oder Katharine Hepburn trug sie frauliche Kleider mit betonter Taille und wehenden Röcken und dazu Schuhe, die in unser Leben in London gepasst hätten, nicht aber auf einen Bauernhof. Klassisch und elegant.
Inzwischen ist Laura etwas üppiger geworden, aber sie ist so schick wie eh und je. Ihre karamellblonden Haare fallen ihr in weichen Wellen bis fast auf die Schulter. Sie trägt eine graue Wollhose mit Gürtel, dazu Gummistiefel und einen purpurroten, eng anliegenden Rollkragenpulli. Ihre Hände stecken in ledernen Reithandschuhen, und ihre purpurroten Lippen sind perfekt geschminkt. Ein hübscher schwarz-weißer Border Collie klebt an ihrem linken Bein und folgt ihr still überallhin.
Als Laura den Wagen sieht, winkt sie aufgeregt. Sie lächelt, öffnet das Tor und schließt es dann hinter uns wieder. Ich halte vor dem Wohnhaus, das rechts an dem gepflasterten Hofplatz steht.
Bei dem Farmhaus handelt es sich um ein lang gestrecktes, schiefergraues Gebäude mit einer Haustür genau in der Mitte. Wie bei einem Haus auf einer Kinderzeichnung sitzen die Fenster im
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