Wiedersehen in Stormy Meadows
unten in einer Truhe gefunden, und da dachte ich, dass sie hier unten, wo ich sie sehen kann, besser aufgehoben sind.«
Cas betrachtet gerade einen Schnappschuss von einer Gruppe Menschen auf einer Theaterbühne. Sie haben sich untergehakt und strahlen, als würden sie etwas feiern.
Zum ersten Mal zeigt das Mädchen etwas wie Interesse. Sie nähert sich dem Foto und studiert es genau.
»Bist du das?« Es sind ihre ersten Worte seit unserer Ankunft.
Beim Klang von Cassies Stimme dreht Laura sich um. Sie kneift die Augen zusammen, um zu erkennen, was Cassie da anschaut. Dann tritt sie nahe an das Foto heran und strahlt. Sie ist tatsächlich selbst auf dem Bild zu sehen, in Netzstrümpfen, einem schwarzen Tanztrikot und einem weißen Wickelpullover.
»Ja, das bin ich. Damals war ich erst neunzehn.«
»Und der Typ neben dir, der den Arm um dich gelegt hat, sieht aus wie Freddie Davies.«
Lauras Lächeln wird noch breiter. »Ja, das ist auch Freddie Davies, höchstpersönlich.«
Cas dreht sich zu uns um. Ihre Augen sind groß vor Staunen. »Aber er war doch der beste Jazztänzer auf der ganzen Welt.«
»Ich weiß, und außerdem ein sehr netter Mann.«
»Du hast ihn richtig gekannt?«
»Wir haben eine ganze Saison zusammen getanzt, im Hammersmith Palais.«
Cassie schaut wieder das Foto an, dann wendet sie sich neugierig an Laura. »Warst du mal Tänzerin?«
»Nein, eigentlich nicht, nicht so wie du. Ich war Schauspielerin, Schätzchen«, gurrt Laura. Bei diesen Worten verdreht sie die Augen. »Aber ich hab auch wahnsinnig gern getanzt – ich konnte die Beine so hoch werfen wie die besten Revuegirls.«
Sie sieht aus, als wolle sie uns gleich eine Vorführung geben, verlagert das Gewicht auf ihr linkes Bein und streckt das rechte vor, allerdings nur zu einem winzigen Kick. Dabei strahlt sie Cas an.
»Ich komme natürlich nicht mehr so hoch wie früher, aber im Moulin Rouge könnte ich immer noch mithalten, wenn ich wollte.«
Cassies Miene ist schwer zu deuten. Ich kann nicht sagen, ob ihr Lächeln freundlich oder spöttisch ist. Sie geht zum nächsten Foto, und in diesem Moment fällt auch mein Blick darauf. Ein warmes Gefühl steigt in mir auf.
»Wer ist das?«
Es ist ein Schwarz-Weiß-Porträt von einem kleinen, aber gut aussehenden Mann. Er schaut direkt in die Kamera.
Laura öffnet den Mund zu einer Antwort, aber ich komme ihr zuvor.
»Mein Vater.«
Ich trete näher heran, und mein Herz schlägt schneller, als ich sein schönes, fröhliches Gesicht nun deutlicher vor mir sehe. Seine Augen leuchten vor Lachen, aber in seinem Blick liegt auch ein wenig Verlegenheit. Er mochte es nicht, wenn man ihn fotografierte, ganz im Gegensatz zu Laura.
Es ist das erste Mal seit sechzehn Jahren, dass ich das Gesicht meines Vaters sehe. Ich besitze keine Fotos von ihm. Damals wollte ich keine haben, wollte keine materiellen Erinnerungen an ihn aufheben. Ich dachte, ich könnte sein Gesicht im Kopf und im Herzen bewahren. Es ist so merkwürdig, ihn jetzt hier zu sehen. Fast als wäre er ein Fremder.
Ich habe ein Foto von Rob in der Brieftasche, aus Angst, dass die Erinnerung an meinen Mann genauso verblassen könnte wie die an meinen Vater. Das Gesicht auf dem Foto vor mir an der Wand ist plötzlich so real, dass sein Anblick mir einen Stich versetzt.
Ich weiß nicht, ob Laura spürt, wie mir zumute ist, aber sie beendet die Unterhaltung abrupt. »Genug in Erinnerungen geschwelgt«, bemerkt sie und greift nach Cassies Hand.
Cas zuckt zurück wie ein erschrockenes Fohlen. Sie betrachtet die Hand meiner Mutter voller Entsetzen, und fast rechne ich damit, dass sie nach der Hand schlägt wie nach einem Insekt. Laura jedoch merkt nichts, sondern zieht das Mädchen einfach mit nach draußen.
»Ich habe doch versprochen, euch meine Rasselbande vorzustellen«, sagt sie begeistert, als ich hinter den beiden hertrotte.
Mit der Rasselbande meint Laura ihre Tiere.
Meine Mutter sammelt Tiere. Immer, wenn ich nach Stormy Meadows kam, begrüßte mich wieder eine neue, bunt zusammengewürfelte Schar.
Es ist fast drei Jahre her, seit ich das letzte Mal hier war. Inzwischen ist Lauras alter Schäferhund Rufus gestorben, und an seine Stelle ist die Colliehündin getreten, die meiner Mutter wie ein Schatten folgt.
Hinten am Hofplatz befinden sich Gehege, die verschiedene gefiederte Freunde beherbergen, oder auch »gefiederte Feinde«, wie ich sie früher nannte, als ich sie jeden Morgen füttern musste. Die Gehege sind aus
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