Wiedersehen in Stormy Meadows
Ihnen das Geschlecht egal ist, dann sollten Sie einfach entscheiden, welchen Welpen Sie am liebsten mögen. Und den nehmen Sie dann.« Mühsam bückt sie sich und hebt ein dickes, zappelndes Tierchen hoch, einen der beiden Welpen, die gerade noch Tauziehen geübt haben. Sie reicht mir den kleinen Hund, der aber hat kein Interesse an mir oder an Streicheleinheiten, sondern will nur zurück auf den Fußboden zu seinem Bruder, der den heiß begehrten Schal jetzt ganz für sich hat. Also setze ich ihn auf den Boden zurück, und er hoppelt los, um den Kampf wieder aufzunehmen.
Ich schaue die beiden kleinen Schlafmützen im Korb an. Sie sind einfach süß, aber sie haben sich so gemütlich an ihre Mutter gekuschelt, dass ich es schwierig fände, sie jetzt aus dem Korb zu holen, geschweige denn, sie der Hündin ganz wegzunehmen.
Der fünfte Welpe, der kleine braune, sitzt ein wenig an der Seite. Ich schaue ihn an, er erwidert mit großen braunen Augen meinen Blick, legt das Köpfchen schräg, und plötzlich überkommt mich ein Schwall von mütterlichen Gefühlen. Ich bin total überrascht.
»Was ist mit dem hier?«, frage ich, bücke mich und strecke ihm die Hand hin.
»Sind Sie sicher?« Mary ist erstaunt. »Er hat jetzt etwas zugelegt, aber er war der Kümmerling im Wurf.«
»Er gefällt mir«, antworte ich. Von der Bewegung meiner Finger angelockt, kommt das Hündchen anspaziert, beschnuppert meine Hand und leckt sie dann mit seiner winzigen rosa Zunge ab.
»Er ist zwar nicht gerade der Schönste, aber er hat ein liebenswertes Wesen.«
»Den möchte ich haben. Wenn Ihnen das recht ist.«
Mary Ray lächelt breit. »Wenn Sie sich sicher sind, gerne.«
»Darf ich ihn schon mitnehmen?«
»Ja, die Kleinen sind so weit. Wenn Sie ihn sofort haben wollen … Ihre Mutter hat mich ja schon vorgewarnt …« Mary Ray bricht die Stimme.
»Alles in Ordnung?«, frage ich besorgt.
Sie seufzt und zuckt die Achseln, als wolle sie ein Gefühl abschütteln. »Wissen Sie, ganz egal wie oft ich das schon gemacht habe, es fällt mir immer wieder schwer, mich von den kleinen Süßen zu verabschieden, wenn sie in ihr neues Zuhause abgeholt werden. Aber ich bin sicher, dass Sie sich sehr gut um ihn kümmern werden. Ich hole jetzt einen Karton und eine Decke, und dann machen wir es ihm für die Heimfahrt gemütlich.«
»Was bin ich Ihnen schuldig?«
»Nein, nein, ich will kein Geld für den Kleinen. Ich freue mich, dass er ein gutes Zuhause kriegt.«
»Aber er ist doch ein Rassehund!« Ich weiß nur zu gut, dass ich in London mehrere Hundert Pfund für so einen Welpen bezahlen müsste.
»Sie tun mir einen Gefallen damit, dass Sie ihn nehmen.«
»Das kann ich Ihnen nicht glauben.«
»Dann sagen wir doch einfach, dass ich Ihrer Mutter zu Dank verpflichtet bin. Weiß Gott, wie oft sie mir im Laufe der Jahre geholfen hat. Ach ja, und ich möchte gerne, dass Sie ihr etwas mitnehmen, wenn das möglich ist.«
»Kennen Sie Laura gut?«
Mary Ray sieht mich einen Moment lang nachdenklich an, dann lächelt sie. »Möchten Sie eine Tasse Tee?«
Eine Stunde später verlasse ich das Haus am Orchard Drive mit einem Welpen und einer etwas veränderten Einstellung. Meine Mutter aus einem anderen Blickwinkel zu sehen hat mir die Augen geöffnet. Für mich war meine Mutter immer eher verschlossen und kühl gewesen, eine Mutter, die mich anscheinend gar nicht in ihrem Leben haben wollte. Für Mary Ray dagegen ist sie eine liebe, rücksichtsvolle Freundin, die ihr immer zur Seite steht, wenn sie Hilfe braucht.
Mir wird bewusst, dass ich meine Mutter eigentlich gar nicht kenne. Schon in der vergangenen Woche ist mir das immer wieder aufgefallen. Laura ist anders, als ich sie in Erinnerung habe – aber wie objektiv kann eine unglückliche Sechzehnjährige ihre Mutter beurteilen? Ich brauche mir doch bloß anzuschauen, wie Cassie mich jetzt sieht, dann wird mir klar, dass die sechzehnjährige Natalie ihre Mutter eigentlich gar nicht gekannt hat.
Vier prächtige Fasanenhähne stolzieren auf dem Hofplatz umher, als ich nach Hause komme. Mit ihren schneeweißen Halsbändern und dem ruckenden Gang erinnern sie mich ein bisschen an aufgeschreckte Landpfarrer, fast als hätten sie ihre nicht vorhandenen Hände auf dem rostbraunen Rücken gekreuzt. Laura hat mir erklärt, sie kämen von Treloar herüber, einem Landsitz in der Nähe, weil sie den Jägern entgehen und unseren Hühnern Mais stibitzen wollen. Als die Küchentür sich mit Schwung öffnet und
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