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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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Malvine.
    »Es ist gut, dass Elsa Sie hat.«
    Malvine nahm Gesas Hand. Es bedeutete ihr viel, dass sie nicht versuchte, sie ihr zu entziehen, und es schnürte ihr den Hals zu, als Gesa unter einem weiteren, schmerzhaften
Atemzug die Augen schloss. So begann Malvine laut zu lesen, um ihre schlimme Befürchtung nicht noch deutlicher empfinden zu müssen.
    Es fiel Gesa nicht auf, dass Malvine keine begabte Vorleserin von Theaterstücken war. Ihre Stimme war angenehm. Die Worte plätscherten vorüber wie ein kühlendes Gewässer.
    Am frühen Abend, als Doktor Böhme ihr mit einer weiteren Gabe Opium die Schmerzen nahm, glitt Gesas Körper in bleierne Müdigkeit, während ihr Geist noch einem Moment wachte, um zu begreifen, dass sie sterben würde.
    Nun, da ihr alle Zeit fehlte, wünschte Gesa, sie könnte Clemens noch ein letztes Mal sehen. Sie sehnte sich danach, die Haut ihrer Töchter zu riechen, wenn sie sich zu ihr neigten, um sie zu küssen. Denn obwohl sie so verschieden waren, sah Gesa ihre Töchter immer gemeinsam vor sich. Es tröstete sie, dass sie sich ohne die eine kein Bild von der anderen machen konnte.
    Als der letzte Atemzug getan war und Gesas Gesicht so glatt wurde wie das eines jungen Mädchens, öffnete Malvine das Fenster. In den gegenüberliegenden Häusern war es noch dunkel, und so blickte sie hinauf zum Himmel, wo ein nächster kalter Morgen dämmerte.

Zwei
    MÄRZ 1828
    Von den kahlen Ästen einer Buche flogen Krähen auf, um sich wenig weiter auf dem Wipfel einer alten Tanne niederzulassen. Jemand hatte Märzveilchen in die aufgeworfene Erde gepflanzt, und die beständige Sonne der vergangenen Tage öffnete nun ihre blauvioletten Blüten. Ihren Duft, der im Sommer zierliche, gelbrote Falter anlocken würde, konnte zu dieser Zeit nur wahrnehmen, wer sich dicht über sie beugte.
    Jeden Tag seit der Beerdigung, zu der sich unzählige Menschen eingefunden hatten, gingen Elsa und Helene zum Grab ihrer Mutter, denn als sie an jenem windigen, grauen Februartag den Friedhof als Letzte verließen, schien es ihnen unerträglich, sie allein mit all den Toten zurückzulassen.
    Elsa war am Friedhofstor stehen geblieben, Helene hatte sich schon umgewandt. Glockengeläut war vom Wind die Hänge hinuntergetragen geworden, und von der Schaufel des Totengräbers flog unablässig schwere, nasse Erde.
    »Ich würde mir so gern etwas anderes vorstellen können, als dass sie da unten liegt«, hatte Helene gesagt. Elsa hatte die wund geschnäuzten Nasenflügel ihrer Schwester angestarrt und war zu Hannes Hermann, dem Totengräber, zurückgelaufen. Sie bat ihn, seine Arbeit einzustellen, bis sie mit ihrer Schwester den Friedhof verlassen hätte.

    »Wir können sonst nicht gehen«, hatte Elsa gesagt. Hannes steckte sich den Silbergroschen in seine abgewetzte Weste und wartete, bis nicht mehr der kleinste Zipfel ihrer flatternden Umhänge zwischen den Bäumen zu sehen war.
    Ihren Vater hatten sie an jenem Tag in seinem Arbeitszimmer vorgefunden, rastlos umhergehend auf dem knarrenden Dielenboden des Dachgeschosses. Seither kam er nur noch zu den gemeinsamen Mahlzeiten herunter. Manchmal hörten sie ihn weinen, dann wieder vergingen Stunden vollkommener Stille. Doch am schlimmsten war es, wenn er mit ihnen am Tisch des kleinen Esszimmers saß, sich gegen sie höflich verhielt wie ein freundlicher Fremder und es vermied, Lina anzusehen, wenn sie unvermittelt in heftiges Schluchzen ausbrach.
    »Hast du dir jemals Gedanken darüber gemacht, ob unsere Eltern sich lieben?«, fragte Helene.
    Sie beugte sich herab und zerrieb die Blätter einer Veilchenblüte zwischen den Fingern.
    »Ich fürchte, ich habe mir mehr Gedanken darüber gemacht, ob unsere Eltern mich lieben«, sagte Elsa.
    »Natürlich tun sie das.«
    »Woher willst du das so genau wissen?«
    »Ach, Elsa. Die Zeitungen mit den Kritiken in Mutters Truhe müssen dir doch Gewissheit verschafft haben.«
    »Warum hat es sie nie interessiert, mich auf der Bühne zu sehen? Es wäre so bedeutend für mich gewesen, konnte sie sich das denn nicht vorstellen? Du bist gekommen, Vater ist gekommen, zusammen wart ihr da, sie nicht. Warum?«
    Helene nahm Elsas blasses Gesicht zwischen ihre Hände und küsste ihr eine Träne fort.

    »Wenn du wüsstest, wie ich dich immer beneidet habe um deine Nähe zu ihr, du würdest mich verabscheuen«, sagte Elsa.
    »Was redest du. Du bist meine große Schwester, ich liebe dich, da kannst du machen, was du willst. Ich habe dich vermisst,

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