Wiegenlied Roman
seit du aus Marburg fortgegangen bist, um zu werden, was du wolltest - liebe Güte, du warst vierzehn! Du hast uns allen gefehlt, gerade weil du so anders bist als der Rest unseres Geburtshelferhaushalts. Meinst du denn wirklich, es ist Mutter leichtgefallen, dich gehen zu lassen? Du bist ihr erstgeborenes Kind!«
»Sofern man das nach ihren vielen verlorenen Kindern sagen kann.«
»Du weißt davon?«
»Malvine hat es mir erzählt.«
»Manchmal sollte Malvine wirklich besser schweigen. Mutter hatte drei Fehlgeburten. Und ja, das sind viele, wenn man den Schmerz darüber bedenkt. Aber sie sagte, ihre Arbeit hätte ihr geholfen, darüber hinwegzukommen.«
»Mit dir hat sie also davon gesprochen.«
»Auch erst, als ich selbst schon Hebamme war. Wir waren bei Elise Ott, der Putzmacherin, als die ihre Zwillinge bekam. Die Wehen hatten ausgesetzt, und sie schlief fast eine ganze Stunde. In unserem Beruf verbringt man sehr viel Zeit mit Warten.«
»Was für mich auch zutrifft.« Wütend und ohne Rücksicht auf ihre feinen ledernen Handschuhe wischte sich Elsa die Tränen von den Wangen. »Es ist scheußlich, ich rede wieder nur über mich.«
Helene hakte ihre Schwester unter und zog sie mit sich den Weg zwischen hoch aufragenden Bäumen entlang.
»Komm, lass uns gehen.«
»Willst du wirklich noch zu den Gärten?«
»Aber ja, ich muss das gute Wetter nutzen, um die Kräuter auszusäen. Außerdem will ich noch Nelkenwurzeln ausgraben. Ich muss die Vorräte in unserer Hausapotheke auffüllen.«
Sie schlugen den Weg an der Stadtmauer entlang ein. Weit über ihnen glitzerten die Rinnsale schmelzenden Schnees vom steilen Dach des Marburger Schlosses.
Elsa tupfte sich die Nase mit einem Spitzentüchlein und zog den schwarzen Schleier ihres Hutes vor das Gesicht. Sie wich einer Pfütze aus und raffte ihr Kleid, obwohl die Säume längst vom durchweichten Boden verschmutzt waren. Neben der eleganten Elsa empfand Helene sich zuweilen plump und ungelenk, wie sonst in niemandes Gegenwart.
Sie passte ihre Schritte den langsameren ihrer Schwester an und schwieg darüber, wie beklommen sie sich fühlte. Als sie am Morgen die Sämereien vom Kontor abgeholt und später den Grabstock vom Kellerbord genommen hatte, war es ihr mit einem Mal erschienen, als tue sie die Dinge wie ihre Mutter. Die Erkenntnis bestärkte sie auf eine verzweifelte Weise in der Befürchtung, ein Leben könnte von ihr Besitz ergreifen, das nicht das ihre war. Nach dem Begräbnis hatte sie dieser quälende Gedanke jede Nacht wach gehalten. Nicht einmal Elsa, der sie jegliche Egozentrik verzeihen konnte, wagte Helene sich anzuvertrauen.
Sie fragte sich, ob Elsas Trauer womöglich tiefer war als die ihre, da sie niemals den Stolz in den Augen ihrer Mutter hatte sehen dürfen, so wie sie es sich wünschte.
Nach der ersten durchweinten Nacht in Berlin und der nicht enden wollenden Kutschfahrt mit ihrem versteinerten
Vater zurück nach Marburg, nach der Ankunft zu Hause in der Hofstatt, wo sie schluchzend die wächsernen, kalten Hände ihrer aufgebahrten Mutter geküsst hatten, von dem Moment an, als sie aus dem eisigen Schlafzimmer ihrer Eltern hinaus in den wärmeren Flur gegangen war, schien eine seltsame Taubheit Helenes Herz befallen zu haben.
Wie oft hatte sie sich seitdem bei dem Gedanken ertappt, dass sie ein ganz und gar gefühlloser Mensch sein musste. Wenn sie über die gelb getigerte Hauskatze lachte, die sich in einem Sonnenstrahl auf dem Küchenboden wälzte, oder wenn sie mit Lina besprach, welche Besorgungen zu erledigen waren. Wenn sie ihren Vater leiden sah und darüber nachdachte, wann er seine Vorlesungen wieder antreten würde und ob sie ihn allein lassen konnte.
Es beschämte sie maßlos, dass ihr größter Wunsch, der ihr ganzes Denken nun schon eine stattliche Weile bestimmte, sich derart erbarmungslos an ihrem Kummer vorbei in den Vordergrund drängte. Statt dass der Verlust ihrer Mutter sie in aller Ausschließlichkeit bewegte, fürchtete sie nichts mehr, als dass sie die eigenen Pläne aufgeben und in Marburg ihren Platz würde einnehmen müssen. Am wenigsten jedoch konnte sie sich verzeihen, dass ihr Bedürfnis, dem Vater zur Seite zu stehen, nicht stärker war als alles andere - ihm, der sie immer und in allem gefördert hatte.
Inzwischen hatten sie die Weggabelung unterhalb der Stadt erreicht, wo sich zum Osten hin die Gärten erstreckten, bedeckt vom modrigen Laub des vergangenen Herbstes und den zu Boden gedrückten
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